empündet.
Nichts von alledem in der Figur des unbekannten Tiroler Meisters.
Eine schöne Gestalt mit zwar unsymmetrischer, aber gleichfalls
schöner Arm- und Handstellung und von einer so packenden Deut-
lichkeit in dem Ausdrucke dessen, was dieser Mensch am Todesholze
jetzt kalten Blutes denkt und sagt, dass es Einen kalt überläuft. Das
ist kein gemeiner Mörder, das ist ein Mörder der eigenen Seele, des
eigenen beseeligenden Glaubens an eine höhere Bestimmung des
Menschen, an eine höhere Weltenordnung.
Man hört ihn sprechen:
„Du so grosser Gott! zeige jetzt, was Du kannst! Befreie Deinen
eigenen Sohn jetzt von dem schmachvollen Marterholz! Zeige Dich
allmächtig! Zeige Dich allgütigl Aber nicht wahr, Du kannst nicht,
weil Du nicht willst, und Du willst nicht, weil Du nicht kannst, und so
kannst Du auch mir den Himmel nicht spenden, weil Du nicht willst,
uncl die Hölle nicht geben, weil Du nicht kannst."
Solcher I-Iohn höllischer Verneinung liegt in dieser Figur. Dieser
Sterbende ist die Personification des Unglaubens, der Verspottung
aller menschlichen und göttlichen Weltordnung und dafür gibt es
allerdings keine Gnade, keine Erlösung, auch nicht einmal in unmittel-
barster Nähe des Weltenerlösers selbst, als dessen Leidens- und
Sterbensgenosse.
Wer solches unzweideutig und sofort sicher erkennbar zu sagen
vermochte in einer holzgeschnitzten Figur, das war ein grosser
Künstler, ein grosser Philosoph, und wenn es auch nur ein Tiroler
Herrgottschnitzer, nur ein Bauemphilosoph war, so war es Einer, der
in der Tiefe und Gewalt seines Fühlens, Denkens und auch Könnens
hinanreichte bis an Dante und Michelangelo. Was sein Können an-
belangt, so steht er beiläufig auf der I-Iöhe von Veit Stoss oder
des gleichfalls noch unbekannten Schnitzmeisters des Pacher'schen
St. Wolfgang-Altares. Ein solches Werk vor dem Untergang oder
mindestens der Verschleppung gerettet zu haben, ist allein schon
ein grosses Verdienst, umsomehr, da ihm hier ein so schöner Platz
angewiesen ist.
Die sehr gut dazu passenden Figuren von Maria und Johannes
sind nicht von derselben Hand. Die gesammte Gruppe ist vor Regen
und Schnee sicher geschützt durch ein mächtiges Vordach, dessen
glasirte Ziegel vom Baseler Münster stammen, und zwar wahrschein-
lich von dessen I 380 nach einem vorhergegangenen Brande erfolgter
Neueindeckung.