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FRANZ HEIN HP VON JOSEPH FOLNESICS-
WIENFIP
EITDEM auch die Künstler Gegenwartsmenschen
geworden sind, hat die Würdigung, die sie in
der Kunstlitteratur erfahren, wesentlich andere
Formen angenommen. Der historische Apparat,
der früher nöthig war, um ein Kunstwerk dem
Verständnisse der Allgemeinheit näher zu bringen,
ist in den Hintergrund getreten, das actuelle
Empfinden, das persönliche Moment, der Zu-
sammenhang mit dem Tage massgeb end geworden.
Man classificirt nicht mehr, sondern individualisirt.
Auch braucht man den Alltagsmenschen nicht
abzustreifen, sondern wird gerade an der Stelle gepackt, wo man alltäglich
ist, und je mehr es der Künstler versteht, das Gewöhnliche zu vertiefen, dem
Einfachen und immer Wiederkehrenden poetischen Gehalt zu geben, das,
was blöden Augen uninteressant erscheint, mit lebendigem Geist zu erfüllen,
desto lauter ist der Beifall, der ihm zutheil wird. In den Mitteln, womit er
dies erreicht, gestatten wir ihm die grösste Freiheit. Er ist nicht allein frei in
Bezug auf die Wahl der Technik, des Stiles, der Farbe des Materials, er ist
es auch hinsichtlich der psychischen Momente. Weder der sentimentalen,
noch der romantischen, tragischen, heiteren, phantastischen oder realistischen
Seite der Lebensauffassung räumen wir ausschliessliche Berechtigung ein.
Willig öffnen wir unser Mitempfinden allen Offenbarungsformen der
Erscheinung, mit Ausnahme jener, hinter der innere Unwahrheit lauert.
Diese im Laufe der Kunstgeschichte noch nie dagewesene Freiheit ist
das Thor geworden, durch das die Kunst in den Bereich des modernen
Lebens Eingang gefunden hat. Auf weitem merkwürdigen Umwege, dessen
einzelne Etappen keineswegs auf dieses Ziel loszusteuern schienen, sind wir
zu dieser Freiheit gelangt. Von Stil zu Stil fortschreitend, waren wir seit
Lessings und Winckelmanns Tagen auf der Suche nach Ewigkeitswerten,
einer nach dem andern brachte aber nur Enttäuschungen und was übrig
blieb, ist nichts als die Überzeugung von der nothwendigen Freiheit im
Bethätigen der eigenen Kraft.
Nichts anderes, als dieser Drang nach Entwicklung der eigenen Persön-
lichkeit hat zu den vielen freien Künstlervereinigungen geführt, die im
bewussten Gegensatze zu den Akademien seit Jahren eine so bedeutende
Rolle im Kunstleben spielen, und unter welchen in Deutschland gegenwärtig
die Worpsweder und die Karlsruher Künstlervereinigung die hervor-
ragendsten sind. Der Schwerpunkt ihrer Wirksamkeit liegt nicht in dem
Umstande, dass sie als Körperschaften Macht und Ansehen gewinnen,
sondern in der Anregung, die innerhalb derselben ein Künstler dem andern
bietet, in dem geistigen Bande, das die Gemeinde umschliesst, in der Kritik,
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