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Volltext: Monatszeitschrift IV (1901 / Heft 8)

wie leichte Betonungen erheben. Wenn Maria in ihrem Grabe ruht und die 
Heiligen sie umgeben, während oben eine Glorie schwebender Gestalten 
sich entwickelt, oder wenn zu einer rauschenden Himmelfahrt das Gewühl 
erstaunter Menschen die Basis bildet, so ist dieses eine Architektur der 
Gruppirung, die sich dem Renaissanceernpfinden einfügt, wie die lange 
verticale Gestalt oder der breite chronistische Streifen der Gothik. Wohl 
können wir die Bilder der decorativsten aller italienischen Schulen, der 
umbrischen und der römischen, die sie fortsetzt, mit demselben Masse 
messen, das wir an die Bauten dieser Zeit zum Unterschied von den Werken 
der Gothik legen. Warum lieben die Venezianer so lange Zeit die breiten Band- 
streifen der erzählenden Brustbilder? Weil sie noch unter dem Glanz der 
Renaissance das alte Bandbild nicht vergessen können, wie sie niemals die 
Stimmung des Mittelalters ganz vergessen. Aber warum hat Perugino ein 
so grosses Vergnügen an der weiten Dispositon eleganter Jünglinge und 
warum stellt Andrea del Sarto seine Heiligen so viel rhythmischer, als der 
alte Domenico Ghirlandajo, der Erzähler? Weil er und Fra Bartolommeo 
und der römische Raffael ihr Auge mit den Proportionen dieser abge- 
klärten, tektonischen Einheiten vollgesogen haben und sie ihre Figuren 
nicht anders ördnen, als der Architekt seine Geschosse und seine Fenster- 
reihen. Die Gothik lässt das Haus von innen werden und der ältere Maler 
lässt seine Geschichte sich von innen erzählen, der Renaissancekünstler legt 
von aussen die Einheiten auf und seine Maler ordnen nicht anders, als von 
aussen das Leben der Wirklichkeit. 
Wenn nicht die Gegenstände selbst, sondern ihre Ordnung das Interesse 
aller Malerei ist, so gab es nur die Form, die die einzige malerische 
Anschauung dieser Männer war und die selbst die Farbe beherrschte, sowie 
heute die Farbe eine Form beherrschen kann. Sie kleiden ihre Figuren nach 
den Gesetzen des formalen Rhythmus und die Heiligen einer Conversazione 
mussten oft ihre Ober- und Unterkleider in dem grossen Magazine der 
Draperie gemeinsam aussuchen, um sie dann auf dem Bilde _in gehörigen 
Corresponsionen anzuziehen. Die mythologischen Gestalten ordnen sich 
nach denselben Gesetzen, die die Composition von Arabesken und Ranken 
bestimmen, und ihr Ensemble ist stets ein Tanz wohl disponirter Gliedmassen. 
Piero di Cosimo und Botticelli führen einen strengen Oberbefehl über die 
Ordnung der Olympier, die die Wände fürstlicher Säle zu schmücken 
berufen sind. Selbst im Schlafe, nach der Liebe Lust, dürfen sie diese 
Rhythmen nicht vergessen. Und alles ist von der Form geregelt, das Einzelne 
und das Ganze, von der Form, in der sich die Eigenarten der Künstler 
aussprechen. Selbst das Porträt an der Wand hatte lange seinen grössten 
Reiz in jenem feinen Liniengedicht, das Pisanello und Domenico Veneziano 
über das scharfe Profil einer jungen Dame componirten. 
Auch die Natur beugte sich allmählich dem Compositionsbedürfnis 
dieser Formalisten. Eine Landschaft des Annibale Caracci dürfen wir nicht 
dorthin hängen, wo sie das beste Licht, sondern wo sie den rhythmisch
	        
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