Der äussere Lebensgang
Rossettis bietet keine aus-
sergewöhnlichen Erschei-
nungen. Er wurde 1828 ge-
boren, erhielt die beste da-
mals in England mögliche
Schulbildung, ging mit dem
vierzehnten Jahre auf eine
Privatzeichenschule und
wurde mit achtzehn Jahren
in die Antikenclasse der
königlichen Akademie zuge-
lassen. Hier wiederholte sich
der typische Vorgang: er
wurde für absolut talentlos
erklärt und kam nie über die
unterste Zeichenclasse hin-
aus. Er entschloss sich daher
zu dem Schritte, der Akade-
mie den Rücken zu kehren
und schrieb einen glühen-
den Brief an den damals
noch gänzlich unbekannten,
um siebenJahre älteren Ford
Maddox Brown, dessen
Wettbewerbsentwürfe für
die Ausschmückung des Par-
lamentshauses er so sehr
bewunderte, in welchem er
ihn unter Ausdrücken seiner
grössten I-Iochschätzung bat, ihn doch in sein Atelier aufzunehmen. Man erzählt
sich, dass Ford Maddox Brown, der bisher bei keinem seiner Zeitgenossen
auch nur das geringste Entgegenkommen gefunden hatte, den Brief für
einen schlechten Scherz hielt und sich mit einem Stock für den Empfang des
Bewunderers bewaffnete. Erfreut über die Wirklichkeit der Rossettfschen
Gefühle nahm er ihn auf, und seitdem sind die beiden Männer bis an Rossettis
Lebensende in inniger Freundschaft verbunden gewesen. Zwar in Browns
Atelier hielt es Rossetti ebenfalls nur kurze Zeit aus. Die hinreissende
Bewunderung, die er für ein Bild des um ein Jahr älteren Holman Hunt auf
der Akademie-Ausstellung 1848 empfand, veranlasste ihn, sich mit diesem
zusammen ein Atelier zu mieten und selbständig zu arbeiten. I-Iunt war mit
dem damals erst neunzehnjährigen John Everett Millais befreundet und führte
diesen Rossetti zu. Diese Drei gründeten dann bekanntlich die „Bruderschaft
der Präraffaeliten", zu der sich bald noch andere Gesinnungsgenossen Scharten.
Dante Gabriel Rossetti. Der Liebesbecher, 1867
er