Evangeliar (Theol. gr. x54)
sich die bildnerische Kunst auch hier, sowohl in der all-
gemeinen Auffassung wie in den Details, in der Architek-
tur, in den Trachten als treuer Nachklang der Antike
dar. Der byzantinischen Schule eigentümlich ist der
Gebrauch des Goldes sowie ein glänzender über die Bilder
aufgetragener Firnis, der sich trotz des heute im allgemeinen recht beklagens-
werten Zustandes der Handschrift noch ganz gut erhalten hat. Den Wert
dieses Denkmals für die Kunde griechischer Schreib- und Malkunst erhöht
der Umstand, dass die Handschrift innerhalb enger Grenzen datierbar ist: den
Schlüssel hiezu liefert das Bild, dessen Reproduktion geboten ist. Im Mittel-
punkte sitzt auf einem, von zwei Adlern getragenen Thron, umgeben von
den beiden Gestalten der „Megalopsychia" (Grossmut) und der „Phr0nesis"
(Verstand) eine Frau, die als Fürstin charakterisiert wird durch das Diadem,
den goldenen Mantel, die dunkelviolette (purpurne) Tunica, besonders aber
durch eine weibliche Gestalt, die sich vor ihr prosterniert, um den Saum
ihres Gewandes zu küssen: die „Eucharistia technon" (Dankbarkeit, Dank-
sagung der Kunst und des Kunsthandwerkes). Man beachte die Komposition
des Bildes in dem achteckigen Rahmen. Bei einiger Aufmerksamkeit ent-
deckt man, dass die acht abgeschrägten Ecken eigens zu dem Zwecke her-
gestellt sind, um ebensoviele Buchstaben eines Namens aufzunehmen:
„]ouliana". Den scharfsinnigen und gelehrten Untersuchungen, die bereits
der Biblothekar Leopolds I., Peter Lambeck, unternahm, verdanken wir die
Identifizierung der Persönlichkeit. Wir haben die Juliana Anicia vor uns, eine
Enkelin Valentinians 111., die im Jahre 505 in Konstantinopel zu Ehren der
Gottesmutter eine prunkvolle Kirche erbaute. Als Beschützerin der Künste und