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Volltext: Alte und Moderne Kunst XX (1975 / Heft 141)

9. Studienblatt zu Proiekt Nr. 2 Tu- 
schelAquarell, 63,5 x 40 cm. (Von 
Atom zu Atom), 1949 _ _ 
Curt Stenvert vor Violinspieler in 
vier Bewegungsphasen, 1947, Flexi- 
glas, farbig eloxietter Aluminium- 
guß, Klinkerfliesen, Holz. 
Clara und Benvenuto gehen anein- 
ander vorbei (ahne Reaktion), 1972, 
Farbstift, 48 x 62,5 cm. 
Junge hört bellen und stellt sich 
einen Zwergpudel vor, 1972, Farb- 
stift, 52 x e: cm (Ausschnitt), 
Das Über-Wien des Freud Curt, 1977. 
Tuschfeder, 30 x 40 cm (Ausschnitt). 
Das Jaqdfest - oder: Der Kampf mit 
dem Stier, 1974, EitemperalHolz, 
150 x 170 cm. 
  
 
Seine kybernetische Malerei und der Futurismus 
Giulio Carlo Argon, seit Lionello Venturi der 
bedeutendste Kunsthistoriker ltaliens, nennt im 
Zusammenhang mit einer Neubewertung des 
Futurismus Anton Giulio Bragaglia (1890-1960) als 
einen iener Pioniere, die durch ihre vorauseilenden 
und überraschenden Intuitionen stimulierende 
Eingriffe in das kulturelle Leben der ersten 
Jahrzehnte unseres Sökulums gegeben haben. 
Sein Fotodynamismus aus dem Jahr 1911 baut auf 
das „Technische Manifest" der futuristischen Maler 
auf, das, von Heraklits „panta rei" ausgehend, 
zu der Feststellung gelangt: „Alles bewegt sich, 
alles fließt, alles vollzieht sich mit größter 
Geschwindigkeit. Eine Figur steht niemals unbeweg- 
lich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet 
unaufhörlich. Durch das Beharren des Bildes auf 
der Netzhaut vervielfältigen sich die in Bewegung 
befindlichen Dinge, ändern ihre Form und folgen 
aufeinander wie Schwingungen im Raum." 
Mit seinem Fotodynamismus antizipiert Bragaglia 
Giocomo Ballas bekanntes Bild „Dynamismus eines 
Hundes an der Leine". In Usterreich fand die 
bildnerische Bewältigung der Bewegungsabläufe 
in den Schülerarbeiten der Abteilung für allgemeine 
Formenlehre von Franz Cizek an der Kunst- 
gewerbeschule kurzfristig einen Niederschlag, bis sie 
1946 von Stenvert wieder aufgegriffen worden ist. 
Der zu früh verstorbene Kunstkritiker Ernst Köller 
nannte Stenvert zu Recht den „Ge0metristen" 
unter den Wiener phantastischen Malern von 
damals und zugleich einen der wenigen, die sich 
vom Futurismus inspirieren ließen. ln seinem ersten 
Obiekt aus Aluminium und Plexiglas „Violinspieler 
in vier Bewegungsphasen" (1947) und in dem 
Studienblatt „Der Mann, der zwei Schritte und 
einen Sprung macht" in zwölf Haupt- und 
22 Nebenphasen (1947) ist seine Entwicklung bis auf 
den heutigen Tag gleichsam im Kern enthalten. 
Der „Violinspieler" nimmt Stenverts Obiektkunst 
vorweg, in der er seit 1962 das Filmrequisit 
zum autonomen künstlerischen Ausdrucksmittel 
entwickelte, und vom Studienblatt führt der Weg 
direkt zum Film, aber auch zur aktuellen 
Schaffensperiade. 
Auf dem Gebiet der Kinematographie ergibt sich 
eine weitere Parallele Stenverts zu Bragaglia, 
der auf eine eigene Rhythmik besonderen Wert 
gelegt hat und durch die beiden wesentlichen 
futuristischen ldiome, Simultaneität und Dynamik, 
zum Ausdruck brachte, daß die Bewegung nicht 
einen fixierten Augenblick des universellen 
Dynamismus bedeutet, sondern die als solche 
festgehaltene dynamische Empfindung. 
Dynamismus und Simultaneitöt sind zunächst auch 
für Stenverts neue Werke wesentliche Elemente, 
doch als drittes kommt die Darstellung kyberne- 
tischer Prozesse als Motivation eines Bewegungs- 
ablaufes hinzu. 
Mit seiner kybernetischen Malerei schließt er an 
seine Arbeiten van 1946 bis 1948 wieder an. 
Er bringt iedoch seine ganzen kinematogrophischen 
Erfahrungen mit. 
Durch den 1948 von dem amerikanischen Mathe- 
matiker Norbert Wiener begründeten neuen 
Wissenschaftszweig, der Kybernetik, werden 
verschiedenartige Vorgänge in neuen Zusammen- 
hängen offenbar, indem sie einerseits in ihrer 
Abhängigkeit von anderen und andererseits in 
ihrer Wirkung auf andere erkannt werden. 
Die Kybernetik nahm wohl vom Technischen her 
ihren Ausgang, kann aber gleichermaßen auf die 
Steuerungsvorgiinge und Regelkreise der belebten 
Natur angewendet werden. So will auch Stenvert 
durch seine bildkünstlerischen Gestattungen 
biokybernetischer Prozesse die Steuerbarkeit 
der Umwelt durch den Menschen, zugleich aber 
auch seine eigene Steuerungsföhigkeit mit Hilfe 
der Ästhetik intuitiv sichtbar machen. Dazu kommt, 
daß Stenvert sein Publikum, das durch die lang- 
anhaltende Lektion informeller Kunst entwöhnt 
worden ist, Bilder zu lesen, durch seine deter- 
Fninierte Hermeneutik wieder zu Bildinhalten 
hinführt. Walter Zettl 
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