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Volltext: Alte und Moderne Kunst X (1965 / Heft 81)

DIE AUSSTELLUNG „DER WIENER KONGRESS 1811H15" WURDE IM REDOUTENSAAL DER 
WIENER HOFBURG  1. JUNI 1965 MIT EINER ANSPRACI-IE VON BUNDESKANZLER 
DR. JOSEF KLAUS FEIERLICH ERÖFFNET. DEN FESTVORTRAG HIELT DER BEKANNTE 
HISTORIKER DR. VICTOR-LUCIEN TAPIE, PROFESSOR AN DER "SORBONNE UND MIT-I 
GLIED DES INSTITUT DE FRANCE 
DIIE REDE DES HERRN BUNDESKANZLERS 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Der Wiederaufbau unseres Staates, der Zweiten 
Republik Österreich, ist untrennbar verbunden 
mit dem Wiederaufbau_Wiens als einer mo- 
dernen Kongreßstadt. Die Fahnen vieler 
Nationen wehen oftmals nebeneinander an der 
Front des Internationalen Kongreßzentrums 
in der Hofburg: Friedlich sehen wir sie da 
vereint, die Machtzeichen von Nationen, die 
sich gestern und vorgestern auf den Schlacht- 
feldern Europas gegenübertraten und die sich 
heute bemühen, ihre Interessen und Streit- 
fallle, mögen sie politischer, wirtschaftlicher, 
weltanschaulicher Natur sein, vor einem 
internationalen Forum auszutragen: vor den 
Vereinten Nationen, vor dem Europarat, vor 
dem Haager Schiedsgerichtshof und vor 
ähnlichen Institutionen. _ _ 
Auf vielen Kongressen wird heute gerungen 
und gestritten um den Frieden von morgen: 
Da taucht nun immer wieder imTlintergrunde 
u - Kongresse unserer Zeit groß und leuch- 
tend das Bild jenes berühmten europäi- 
schen Kongresses auf, de! für ein halbes 
Jahrhundert das europäische Gleichgewicht 
d damit die europäische Ordnung sicherte. 
ismarck schwebt auf dem Berliner Kongreß 
1878 deutlich das Vorbild des-Wiener Kon- 
resses vor, zu dem er sich selbst bekennt. 
II Berliner Kongreß unter seinem Vorsitz 
ollte ein zweiter Wiener Kongreß werden. 
' s sich Präsident fWilson 1918 anschickt, 
u. Europa zu kommen, um Frieden zu 
1- chen und den Ersten Weltkrieg zu beenden, 
. sen die Engländer für ilm eine sorgfältige 
"storische Studie über den Wiener Kongreß 
usammenstellen, als Vorbereitung für die 
' riedensverhandlungen. Wlilson hat sie leider 
'cht gelesen. 
,Der neue Wiener Kongreß tagt in Paris", 
chreibt Walther Rathenau, als nach dem 
rsten Weltkrieg die Friedensverhandlungen 
I Versailles beginnen. Nun, Versailles wurde 
ein zweiter Wiener Kongreß. Und eine echte 
- gemeine Friedensordnung nach dem Zweiten 
Weltkrieg ist in den zwei Jahrzehnten seither 
"berhaupt nicht zustande gekommen! 
"i: haben allen guten Anlaß, heute in Öster- 
eich und hier in Wien uns diese große Re- 
"on Europas vor einhundertfünfzig Jahren 
Erinnerung zu rufen. 
- eben diesen eineinhalb Jahrhunderten ist 
l -- 'ch in Europa die große und gute Kunst, 
riedm zu machen, verlorengegangen. Worum 
s beim Machen des Friedens, beim Frieden- 
chließen geht, hat jener Mann, der neben 
etternich der bedeutendste Diplomat auf dem 
iener Kongreß war und der sein auf den 
chlachtfeldern geschlagenes Vaterland, Frank- 
cich, so glänzend und siegreich auf dem 
wiecigsten Parkett im Ringen vor allem 
-- "t dem Zaren Alexander I. vertrat, Talleyrand, 
sehr deutlich und klar, angesagt. Talleyrand 
erklärt: ein Friedensvertrag ist ein Überein- 
kommen, „das sämtliche strittige Fragen regelt 
und nicht bloß den Friedenszustand auf den 
Krieg, sondern auch die Freundschaft auf den _ 
Haß folgen läßt". Was für ein Glaube an die 
Vernunft, was für ein Glaube an die vernünftige 
Bereitschaft des Menschen, mit dem Menschen 
übereinzukornmen. ' 
Meine Damen und Herren! Wir alle wissen 
und erfahren es täglich, durdi Rundfunk, Fern- 
sehen, Presse und eigene schmerzliche Er- 
fahrung, wie weit wir in der harren Realität 
yon heute noch enäernt sind von dem Glauben 
an eine gute Zukunft, von der Kraft, vom 
Vermögen, Frieden zu machen, Frieden zu 
schließen. Trotz alledem, wir sind verpflichtet, 
das Vermögen, die Kraft, Frieden zu machen, 
Frieden zu schließen, wieder zu gewinnen, 
die in den eineinhalb Jahrhunderten zwischen 
1815 und 1965 verschlissen, verbraucht wurde 
und die dringend einer Wiedergeburt bedarf. 
Erinnern wir uns: über dem Wiener Kongreß 
hing drohend ein riesenhafter Schatten - 
über ganz Europa geworfen durch denlKampf 
gegen die Französische Revolution und die 
Überwindung ihres großen Sohnes Napoleon. 
Die Völkerschlacht bei Leipzig, die diese 
Ausstellung hier so eindrucksam zur Schau 
stellt und an die uns in Wien täglich das 
Denkmal Schwarzenbergs erinnert _. diese 
Schlacht war die größte Schlacht des ganzen 
19. Jahrhunderts gewesen. 
Die Schlagschatten des großen Blutvergießens 
auf allen Schlachtfeldern Europas waren noch 
nicht gebannt: und noch und wieder hing 
die Drohung des Schwertes über dem Kon- 
greß in Wien. Mehr als einmal drohten die 
Verhandlungen selbst zu scheitern - der 
Zar und Metternich gerieten bis an den Rand 
des Duells, ebenso der Zar und Talleyrand, 
und die eben noch verbündeten Machte dei 
Großen Koalition, die mühsam genug Napo- 
leon niedergerungen hatten, gerieten im Streit 
der Interessen hart bis an den Rand des 
Bruches aneinander. Dann siegte doch noch 
der Wille zum Frieden. 
Wir sehen hier, heute v_or uns, die Schluß- 
akte des Wiener Kongresses vom 9. Juni 1815, 
218 Folien in Leder gebunden, mit den Unter- 
schriften und Siegeln der österreichischen, 
französischen, englischen, portugiesischen, 
preußischen, russischen und schwedischen 
Bevollmächtigten. Der Wiener Kongreß legte, 
wie der Göttinger Historiker Richard Nürn- 
berger in der Neuen Propyläen-Weltgeschichte 
festhält, die Geschicke Europas für ein Jahr- 
hundert in die Hände des Areopags der fünf 
Großmächte: „Das System der europäischen 
Pentarchie war eine Hochform in der Ge- f 
schichte internationaler Beziehungen. Dieses 
System bildete die Voraussetzung für die 
Weltstellung Europas im 19. Jahrhundert. 
Mit seinem Zusammenbruch im Ersten Welt- 
krieg war auch Europas Vormachtstellung 
beendet." i 
Die Kunst, Frieden zu schließen, ging ver- 
loren; sie ging verloren, da der Mensch in 
den Materialschlachten, in den Gemetzeln, in 
den Greueln der beiden Weltkriege, der 
Revolutionen und Gegenrevolutionen unseres 
Jahrhunderts die gemeinsame Sprache verlor: 
die Sprache eines gemeinsamen menschlichen, 
mitmenschlichen Alphabets. Diese Sprache 
eines gemeinsamen Credo, eines Glaubens an 
die Kraft der Vernunft und eines Glaubens, 
der sich noch aus tieferen Gründen nahrte, 
im letzten ein Glaube an die Gottebenbild- 
lichkeit des Menschen - dieser Glaube hatte 
eine gemeinsame Sprache der Rationalität und 
Humanität geschaffen. 
Meine Damen und Herren! In Erinnerung an 
den Wiener Kongreß, der diese gemeinsame 
Sprache des Menschen noch beherrschte, sehen 
wir unsere Aufgabe für heute und morgen: 
eine gemeinsameSprache uns zu erringen, 
eine Sprache, im Sprachgewand vieler Sprachen; 
so, daß die großen vieldeutigen Worte „Frei- 
heit, Friede, Fortschritt, Demokratie" wieder 
einen gemeinsamen Sinn, eine gemeinsame 
Verpflichtung erhalten. 
Wenn wir, hier in Österreich und in Europa, 
in unserem staatspolitischen Arbeiten um 
Begegnung zwischen West und Ost, Nord 
und Süd, in diesen Jahren unseres Lebens 
einige Schritte auf diesem Wege vorwärts 
gehen - dem künftigen gemeinsamen Alpha- 
bet der einen Menschheit zu, dann gewinnen 
wir der Erinnerung an den Wiener Kongreß 
die Kraft ab, uns in Selbstverpflichtung zu: 
engagieren: mit jedem Wort, zu dem wir uns 
gemeinsam bekennen, wird uns die Kraft 
zuwachsen, Frieden zu schließen - Frieden 
zu geben, einer Welt, über der, noch furcht- 
barer als über der europäischen Welt von 1813, 
1'814 und wieder in Napoleons Hundert 
Tagen 1815, das Schwert des Todes hängt. 
In diesem Sinne öffnen wir uns heute den 
Schaubildern der Ausstellung „Der Wiener 
Kongreß 1815". 1965 sprechen sie noch beredt 
zu uns von großem Krieg und großem 
Streit und von dem schweren Ringen um 
den Frieden. Mögen diese Werke der Kunst 
und des Kunsthandwerks und die schriftliche 
Dokumentation des Wiener Kongresses uns 
Anreiz, Mahnung und Aufforderung werden, 
im kleinen und größeren Raum unseres eigenen 
Lebens unseres gegenwärtigen wie zukünftigen 
Zusammenlebens die hohe Kunst zu erlernen 
und zu praktizieren, die der Wiener Kongreß 
einem Jahrhundert vorstelltei die Kurul, Frieden 
"(u warben.
	        
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