VORWORT
ZUM DRITTEN 3flHR6HN6
D ie Hohe Warte erfcheint nunmehr auf erwei=
terter Bafis im dritten Jahrgang. Herausgeber
und Verleger find darin einig, daß fich im Herzen
der Welt ein Gedanke regt, der zur Husfprache
drängt. Jahrzehntelange fruchtbare Arbeit liegt
vor, die Angelegenheiten unferer perfönlichen und
allgemeinen Kultur, die künftlerifchen Fragen
des Städtebaues, des Wohnungswefens, des
Gewerbes und der Volkswirtfchaft. Kurz das
Um und Auf der künftlerifchen Bildung. Sie
harren der beftändigen Löfung und Erneuerung.
Für fie will die Hobe Warte auf deutfcher
Erde einen geiftigen Mittelpunkt bilden. Aber
keineswegs in der herkömmlichen abgedrofcbenen
Art, fondem als Ausdruck einer fich vorbereiten»
den künftlerifchen Gefinnung, die das Antlitj der
formalen und wirtfcbaftlicben Weltverfaffung zu ver»
edeln ftrebt. Wir haben für die große Maffe kein
billiges Lefefutter zu bieten, und können von vorne»
herein nur mit der Schar von Gleicbgefinnten
rechnen, mit den Werdenden, die fruchtbare
Kräfte entwickeln. Wir maßen uns nicht an,
Fertiges und Ganzfertiges zu geben. Wir fühlen
uns felbft zu febr im Werden und in der Ent»
Wicklung. Aber wir halten an den befcheidenen
Glauben feft, daß in diefem Stadium die einzige
Möglichkeit fruchtbaren Schaffens liegt. □
R. Voigtländers Jofeph flug. Lux
Verlag, Leipzig als Herausgeber
DIE WERDENDEN
n künftlerifchen Dingen wird gegen die Modernen oftmals der
Vorwurf erhoben, daß ihren Leiftungen die »Abgeklärtheit«
fehle. Diefer Vorwurf ift das tieffte Kompliment, das den
Werdenden gemacht werden kann. Wenn fie jemals die unfinnige
Forderung der Abgeklärtheit erfüllen feilten, dann find fie reif,
fich begraben zu laffen, wie alle die Fertigen, die Ganzfertigen,
Zum Troft des Künftlers und jener, die eines Geiftes mit ihm
find, muß getagt werden, daß die Welt von den Werdenden lebt,
und nicht von den Fertigen. Nur die Werdenden find fruchtbar,
fie ftellen eine Entfaltung von Kräften dar, die ihre eigenen find.
Niemals ift das Genie »fertig«, niemals ift es »abgeklärt«. Es
folgt der animalifchen Kraft des Inftinktes, und das Ziel ift dunkel.
Columbus, Bismarck, alle Eroberer, Entdecker, Schöpfer, Künftler
und Liebende waren von etwas vorwärts getrieben, das nur die
Werdenden erfüllt, und in vifionärer Unbeftimmtheit ihnen vor»
fchwebte. Als Befeffene, die man im Mittelalter verbrannte, weil
man ihre geheimnisvolle Macht fürchtete. Man fürchtet fie heute
noch und man wird immer die Befeffenheit der Werdenden fürchten.
Die Furcht ift Grund genug, einen Krieg gegen fie anzuzetteln,
der ein ergöfjliches Schaufpiel für Götter ift. □
Abgeklärt, das find die »Fertigen«, die kleinen Kerle, die Nach»
treter, die Akademiker und Syftembereiter. Ad) ja, die Syfteme!
Die Schulfyfteme, die Regierungsfyfteme, die Glaubensfyfteme! Sie
find die Zwangsjacken, von der Zivilifation für die Befeffenen
bereitgehalten. Die menfchliche Entwicklung zielt auf die Ab»
febaffung der Zwangsjacken ab, und auf formelle Anerkennung
der unzweifelhaften Überlegenheit der Werdenden. Die Kultur»
verfaffung einer immerhin möglichen Zukunft wird die wichtigften
Ämter der mit der Kraft eines finnlichen Idealismus begabten
Jugend überlaffen, die nicht verfauerte Vorrechte und Vorurteile
hüten, fondern die fich entwickeln und vorhandene Kräfte frei»
machen will. Die Richtung der natürlichen Kraftentfaltung ift
immer der richtige Weg, wenngleich es auch keinen Weg gibt,
der ganz frei von Irrtümern ift. Ein alter Herr, der auch einmal
jung war, hat das ganz trefflich ausgedrückt. □
Es muß bei diefer Gelegenheit gefagt werden, das nichts auf das
Syftem ankommt. Das Syftem ift allzu häufig die Verfchanzung der
Schwachen, der Unfähigen und Unproduktiven, die zur Laft fallen.
Nicht das Syftem entfeheidet, fondern die Perfönlichkeit. Syfteme
haben meiftens nur den Zweck, zu bindern. Ich will politifeben
Beifpielen gerne ausweicben, aber ich muß das Selbftverftändlicbe
fagen, daß ich ein abfoluter Anhänger des allgemeinen Wahlrechtes
bin, und es allen Ländern, die es noch nicht haben, dringend
wünfehe; nicht weil von ihm das Heil zu erwarten ift, fondern
weil die Erfahrung gemacht werden muß, wie wenig davon ab»
bängt. Die Schwächepolitik des unperfönlichen Staates bat als
letjtes Befcbwörungsmittel die fette Pfründe zu vergeben, es bat
noch feiten verfagt. Es liegt in der Natur der Schwächepolitik,
daß fie nicht die Stärke, fondern die Schwächen des Gegners ab-
fcbätjt, fie hat fich noch feiten geirrt. Es bat wunderliche Zeiten
gegeben, wo das Höcbfte vom Parlamentarismus erwartet wurde,
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