aus dem Streben, orientalisch zu erscheinen. Auch unser Bild zeigt übrigens
einen sehr bemerkenswerten altorientalischen- Teppich unter den Knien
Mariens. Daß der Behang, der im Hintergründe die Wand und die bankartige
Stufe davor bedeckt, orientalisch sein soll, zeigen unter anderen die herum-
laufenden arabischen Schriftzüge. Auch das breite Rankenornament mit den,
von einer Art Vierpässen umgebenen Tiergestalten im Rande macht einen
durchaus orientalischen Eindruck; ohne darauf näher einzugehen, kann
man sagen, daß es der Eindruck von sarazenischen, teilweise unter ost-
asiatischem Einflusse stehenden, Arbeiten ist." Das Rosettenornament im
Innern des Behanges ist bei orientalischen Arbeiten gleichfalls keineswegs
selten. Selbst die intarsienartige Dekoration des Lesepultes zeigt eine,
zwar nicht ausschließlich orientalische, aber im Oriente besonders beliebte
und wohl von dort nach Italien gekommene Technik und Formengebung.
Wenn wir noch etwa auf die Säume der Gewänder hinweisen, die teils
arabische Schriftzeichen, teils ähnliches Rankenwerk wie der große Behang
zeigen, so kann man wohl nicht bezweifeln, daß hier die bewußte Absicht
vorliegt, den Eindruck orientalischer Formensprache hervorzurufen. Und
wenn das orientalisierende Rankenwerk dann selbst in die Heiligenscheine
übergreift, so mag auch dies eher für als gegen die Annahme einer solchen
Absicht sprechen. Allerdings liebt das späte Mittelalter Europas ja auch
sonst die Anwendung dichteren Rankenwerkes; aber abgesehen davon, daß
die Ausbildung dieses Rankenwerkes an sich schon vielfach mit dem Oriente,
besonders mit orientalischen Stoffen, zusammenhängt, decken sich die
_ besonderen Formen hier mit den gewöhnlich als „spätgotisch" bezeichneten
durchaus nicht.
Es scheint also, wie gesagt, klar zu sein, daß der Maler den Eindruck
eines im Morgenlande spielenden Vorganges erzielen wollte. Wenn dieser
Eindruck nun durch die Verwendung spätsarazenischer Formen hervor-
gerufen werden soll, so ist der - sagen wir - bei lokaler Richtigkeit unter-
laufeneZeitfehler beinahe geringer als der bei den oben erwähnten französischen
Bildern, die von dem ganz falschen Standpunkte vermeintlicher Unab-
änderlichkeit des Orientes aus geschaffen worden sind.
Als orientalisch galten dem Maler nun gewiß auch die Stoffe, die der
Mantel Mariens und das Obergewand Gabriels uns zeigen. Allerdings sind
es keine Stoffe des eigentlich so genannten Orientes, doch hat sie der Maler
aller Wahrscheinlichkeit nach dafür gehalten; denn wenn sie auch nicht aus
dem genannten Gebiete stammen, so sind sie doch sicher über dieses Gebiet
nach Italien gelangt, und hier hat dann gewiß niemand nach der ursprünglichen
Heimat der Stücke gefragt. Betrachten wir aber zum Beispiele nur die natura-
listischen Zweige über der linken Hand Mariens, so ist es ganz klar, daß
solche Formen, selbst lange Zeit noch nach Vollendung des Bildes, weder in
1' Man kann hier den Rand einer Stuhldecke auf einem Kakemono des Mibchö (1352 bis 1432) bei Tajirna
„Selected Relics cf japanese Art" Kyoto rgoz, Band Vl. Tafel 23, und die kleineren noch reicheren Ränder des
Gewandes der Figur rechts auf dem Bilde von Chinkai (T i 152) daselbst, Band II, Tafel 15, vergleichen.