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Metadaten: Monatszeitschrift II (1899 / Heft 11)

GOETHE ALS LEBENDIGER. 
KUNSTSCHÄTZE AM RHEIN, MAIN U. NECKAR. 
E s ist eine gewisse Gefahr, „Klassiker“ zu beschwören. Wir stehen alle 
noch zu sehr unter dem beängstigenden Eindruck, dass die „Klassiker“ 
in der Regel dacu missbraucht wurden, die moderne Kunst toteu 
schlagen. In Goethe wollen ewar alle leben, auch jene, die ein bloss antiqua 
risches Interesse mitbringen, allein der ganze Wulst wissenschaftlicher, literar 
historischer Untersuchungen, der zu ungeheurer Goethe-Literatur ange 
schwollen ist, hat nicht vermocht, auch nur einen der lebenden Werte in 
Goethes Schaffen für unser Leben fruchtbar zu machen. Für eine Zeit, die 
gewohnt war, ihre Kunstfreude ausschliesslich durch die wissenschaftliche 
Brille zu untersuchen, ward MEHR GOETHE, in Wirklichkeit 
WENIGER GOETHE; die Gewohnheit, viel über Goethe und wenig 
oder nichts von Goethe zu lesen, trug dazu bei, die literar historische 
Weltentrücktheit des „Klassikers“ zu versichern. So ward der Begriff 
„Klassiker“ eine Drohung, die nicht nur die Jugend der niederen und 
hohen Schulen mit den Ängsten des Alpdrückens erfüllte, sondern auch 
die künstlerische Entwicklung in den Starrbann versetzte, bis das stärkere 
Leben zum Trotz ermannte und das Erlösertum des Ketzers schuf . . . . □ 
Und nun 1 Wir alle, denen die Aufgaben der künstlerischen Bildung am 
Herzen liegen, erkennen in allem, was wir treiben und lieben, unzählige 
Beziehungen, die unsere Sache mit Goethe verbindet. Was wir immer an alter 
Kunst schätzen und verehren, wir können es nicht anders tun, als in 
lebendiger Beziehung zu unserem gegenwärtigen Leben und seiner Zukunft. 
Was nicht diesem Zweck dient, kann für uns in Wahrheit nicht bestehen. 
Für unsere Sache erscheint Goethe als Lebendiger — nicht als „Klassiker“, 
aus dem die Beckmesser und Scharfrichter der Kunst einen strafenden Ju 
piter in verstaubter Puderperücke gemacht haben. ■ 
Was also heisst am Ende in Goethe leben ? Was uns bewegt, hat auch 
den Grossen zu seiner Zeit beschäftigt. Manches Zeitliche ist abgefallen, 
aber was für uns bedeutsam ist, liegt nicht so sehr an den Dingen, als an 
dem Geist, mit dem er die Dinge zu erfüllen wusste. Sein Tun hat die 
Kraft eines lebendigen Beispiels. Es wird am stärksten in seinen kleinen 
Schriften offenbar, die am wenigsten gelesen werden und die fast unbekannt 
sind, obzwar sie, oder vielleicht gerade weil sie allen Klassikerausgaben 
beigefügt sind. Es erscheint uns nun als eine fast verdienstliche und zeit- 
gemässe Sache, eine Auswahl jener Schriften Goethes in unseren Heften 
abzudrucken, die in einem gewissen Zusammenhänge mit den Dingen 
stehen, die wir pflegen. Dazu gehören alle Schätze der neuen und alten 
Kunst, sofern sie für uns leben können, neue und lebende Werte dar 
stellen. Die Reisenden-Aufsätze über die Kunstschätze am Rhein, Main 
und Neckar enthalten einen ganzen Schatz solcher lebender Werte, mit 
dem die Leser wenig anzufangen wussten. Nun es aber gelungen ist, mit 
Unbefangenheit zuzusehen und den Blick für die neuen Eindrücke offen 
zu halten, stellt es sich heraus, dass es eine entzückende Reise ist, reich 
an originellen Wahrnehmungen und Erfahrungen und an Ausblicken, die 
über das Jahr 1814/15 bis reichlich 1906 und darüber hinaus reichen. 
Schon die Art des Reisens und des Geniessens ist eine höchst vergnügliche 
und angenehm belehrende, reichlich verschieden von der Art, wie man 
sich heute in solchen Dingen zu benehmen pflegt; der heutige Reisende 
sammelt in der Regel Hoteleindrücke. Der Hotelstandpunkt ist für seine 
Kenntnis der fremden Stadt massgebend, und der kalt-staunende Besuch 
in den Museen, die blinde Hast durch ein paar Säle, sind nicht geeignet, 
die Dürftigkeit guter Reiseeindrücke wesentlich zu bereichern. An Goethe 
können wir die Kunst des Reisens wieder lernen. Seinem Beispiel zufolge 
war es massgebend, die Menschen zu besuchen, die den Ort berühmt oder 
rühmenswert machten, ihre Ansichten, ihre Lieblingsbeschäftigung und die 
Dinge kennen zu lernen, die sie pflegten und um deretwillen die Reise 
fruchtbringend zu werden versprach. Eine Menge von Menschen mit ihrer 
Individualität, ihren Vorzügen und Schwächen, ihren Wunderlichkeiten 
und harmlosen Narreteien gehörten in die Reisegalerie und in den 
wohlversicherten Seelenbesitz, ebenso wie die intime Kenntnis der gese 
henen Dinge, die gleichzeitig eine sehr persönliche Physiognomie 
gewannen. Nicht nur weil sie für den Ort bedeutsam waren, sondern 
auch für den Besitzer, der eine Menge über die Herkunft des Gegenstandes, 
über die Umstände der Besitzerwerbung und die sonstige Hausgeschichte 
zu erzählen wusste. Kein Museumsbesuch kann diesen Wert bieten, als der 
Besuch bei den Sammlern selbst, deren Liebe eine persönliche Beziehung zu 
den Kunstschätzen herzustellen wusste, die sich auch dem Besucher mitteilt. 
Der Empfang in Köln liefert den in unserer Zeit durchaus ungewohnten 
Beweis, dass an der Kunstliebe nicht allein der kleine Kreis von Kunst 
freunden, sondern ein grosser Teil der Stadtbevölkerung überhaupt beteiligt 
war. Wir könnten es uns nicht erklären, wie anders es für die Bürger 
schaft ein Festtag sein konnte, da ein längst vermisstes Bild für die Stadt 
Zurückgewonnen wurde. ^ 
Das Kunstinteresse bleibt nicht allein bei der älteren Kunst oder einem 
ihrer Zweige stehen* Es wird bekanntt dass die einheimischen zeitgenös 
sischen Künstler in einer Stadt, die mit den heutigen Städten verglichen 
winzig erscheint, reichlich beschäftigt waren* Schon damals gehörte es zu 
den Pflichten der gebildeten Einwohnerschaft, die Reste der alten Kunst 
zu sammeln und kleine Privatmuseen anzulegen, die einen anregenden 
Kunstschatz bildeten* Von Auswüchsen war natürlich auch die gute Sache 
nicht frei* Dass man, um die Sammelgegenstände gut unterzubringen, sti 
listische ’Wanddekorationen schuf, die den Geist einer anderen Zeit vor 
täuschten, ist ein nachmals zum Verhängnis entarteter Irrtum gewesen, der 
damals in den unschuldigen Anfängen stand* Winkelmanns archäologische 
Studien standen an der Schwelle dieses Beginnens* Es ist aber kaum zu 
denken, dass die damaligen derartigen Versuche jemals so geschmacklos 
ausfielen, als die abschreckenden Beispiele von Stilarchitektur, die wir 
aus den heutigen Tagen vor Augen haben* q 
Die Sammlertätigkeit erfüllte eine sehr bestimmte und wertvolle Kultur 
arbeit* Es ist nicht leicht auszurechnen, welchen geistigen, künstlerischen 
und zugleich wirtschaftlichen Wert eine Stadt durch die Anwesenheit 
solcher Sammlungen erhielt* Die Kunstpolitik musste ein Augenmerk darauf 
haben, denn die Wirkung der künstlerischen und sammlerischen Tätigkeit 
strahlte nach vielen Richtungen aus* Die Stadt war ein Schatzkästlein, 
und an dem Geheimnis der schönen und wertvollen Dinge, die es umschloss, 
fand der Stolz und die Kunstliebe der Einheimischen JMahrung und An- 
regung zum Erhalten und Erschaffen schöner Dinge, hielt die Nahen und 
die Fernen in Atem* Wo es Wertvolles zu sehen gibt, strömen naturgemäss 
die Menschen hin* Die Qualität und das Talent machen den Erfolg der 
Wirtschaft aus* Dabei ward darauf gesehen, dass jeder Ort sein Eigenes 
besass* Nicht die Nachahmung, sondern die Eigenart hielt das Interesse 
und den Anreiz wach* ^ 
Aus dem gleichen Bedürfnis sind die Kunstsammlungen entstanden, die 
ein durchaus lokales Antlitz zeigen* Was wir heute anstreben : Lokalmu 
seen, welche die Geschichte und die Kunstentwicklung eines bestimmten 
kleinen Gebietes zeigen, das Schaffen der Vergangenheit, die Pflege des 
Gegenwärtigen und die Vorbereitung des Künftigen, finden wir auf Goethes 
Reise in dem fertigen Beispiel vor* Es ist gut, dass wir daran erinnert 
werden, was heute zu tun noch so vielfach verabsäumt wird* □ 
Der Ort, die Stadt und zuletzt der Staat haben ein wohlberechnetes Inter 
esse an der Sache* Die private Sammeltätigkeit zu fördern, gibt ihnen 
das Anrecht, sich als den künftigen Besitzer und Nutzniesser der Schätze 
zu fühlen* Die Bildung und Entwicklung der Privatsammlungen fördert 
die Entstehung der Museen* Diese Museen hatten so lange einen lebendigen 
Anteil an dem Kunstleben der Stadt, als sie den privaten Charakter be 
wahrten und einen Kreis von Mitgliedern um sich bildeten, die sich der 
Pflege eines bestimmten Gebietes widmeten* □ 
Den festen Mittelpunkt der Kunsttätigkeit bildete die Architektur* Der 
Domausbau war eine Aufgabe, die für die Entwicklung des ganzen Kunst 
gewerbes eines Ortes oder Landes bestimmend sein konnte* Es soll 
dabei erinnert werden, dass in unserem bureaukratischen Zeitalter zum un 
berechenbaren Nachteil der wertbildenden Kräfte die Bautätigkeit leider 
nicht als eine Aufgabe aufgefasst wird, die die Bestimmung hat, die ge 
samte künstlerische und baugewerbliche Tätigkeit auf ein neues und 
höheres Niveau zu bringen. q 
Der Dilettant hatte eine wichtige Funktion in der Kunstpflege* Er war 
eine ganz allgemeine Erscheinung seiner Zeit; der Umstand, dass sich die 
Allgemeinheit dilettierend mit den Künsten zu beschäftigen pflegt und 
kein Material unversucht liess, brachte eine gesteigerte Aufmerksamkeit 
auf alle Zweige der künstlerischen und gewerblichen Tätigkeit mit und 
ein Interesse, das den Berufenen als Förderung diente* Der Künstler und 
Gewerbsmann war versichert, ein verständiges Publikum zu finden, das 
den Wert seiner Arbeit schätzen oder durch Anregungen befruchten konnte* 
Er stand nicht allein* Es ist gar nicht zu ermessen, wie hoch die quali 
tative Leistungsfähigkeit und die werterzeugende Kraft des Volkes ge 
steigert würde, wenn heute noch jene allgemeine künstlerische Bildung 
so verbreitet wäre, wie es derzeit etwa die kaufmännische Bildung ist. □ 
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