GOETHE ALS LEBENDIGER.
KUNSTSCHÄTZE AM RHEIN, MAIN U. NECKAR.
E s ist eine gewisse Gefahr, „Klassiker“ zu beschwören. Wir stehen alle
noch zu sehr unter dem beängstigenden Eindruck, dass die „Klassiker“
in der Regel dacu missbraucht wurden, die moderne Kunst toteu
schlagen. In Goethe wollen ewar alle leben, auch jene, die ein bloss antiqua
risches Interesse mitbringen, allein der ganze Wulst wissenschaftlicher, literar
historischer Untersuchungen, der zu ungeheurer Goethe-Literatur ange
schwollen ist, hat nicht vermocht, auch nur einen der lebenden Werte in
Goethes Schaffen für unser Leben fruchtbar zu machen. Für eine Zeit, die
gewohnt war, ihre Kunstfreude ausschliesslich durch die wissenschaftliche
Brille zu untersuchen, ward MEHR GOETHE, in Wirklichkeit
WENIGER GOETHE; die Gewohnheit, viel über Goethe und wenig
oder nichts von Goethe zu lesen, trug dazu bei, die literar historische
Weltentrücktheit des „Klassikers“ zu versichern. So ward der Begriff
„Klassiker“ eine Drohung, die nicht nur die Jugend der niederen und
hohen Schulen mit den Ängsten des Alpdrückens erfüllte, sondern auch
die künstlerische Entwicklung in den Starrbann versetzte, bis das stärkere
Leben zum Trotz ermannte und das Erlösertum des Ketzers schuf . . . . □
Und nun 1 Wir alle, denen die Aufgaben der künstlerischen Bildung am
Herzen liegen, erkennen in allem, was wir treiben und lieben, unzählige
Beziehungen, die unsere Sache mit Goethe verbindet. Was wir immer an alter
Kunst schätzen und verehren, wir können es nicht anders tun, als in
lebendiger Beziehung zu unserem gegenwärtigen Leben und seiner Zukunft.
Was nicht diesem Zweck dient, kann für uns in Wahrheit nicht bestehen.
Für unsere Sache erscheint Goethe als Lebendiger — nicht als „Klassiker“,
aus dem die Beckmesser und Scharfrichter der Kunst einen strafenden Ju
piter in verstaubter Puderperücke gemacht haben. ■
Was also heisst am Ende in Goethe leben ? Was uns bewegt, hat auch
den Grossen zu seiner Zeit beschäftigt. Manches Zeitliche ist abgefallen,
aber was für uns bedeutsam ist, liegt nicht so sehr an den Dingen, als an
dem Geist, mit dem er die Dinge zu erfüllen wusste. Sein Tun hat die
Kraft eines lebendigen Beispiels. Es wird am stärksten in seinen kleinen
Schriften offenbar, die am wenigsten gelesen werden und die fast unbekannt
sind, obzwar sie, oder vielleicht gerade weil sie allen Klassikerausgaben
beigefügt sind. Es erscheint uns nun als eine fast verdienstliche und zeit-
gemässe Sache, eine Auswahl jener Schriften Goethes in unseren Heften
abzudrucken, die in einem gewissen Zusammenhänge mit den Dingen
stehen, die wir pflegen. Dazu gehören alle Schätze der neuen und alten
Kunst, sofern sie für uns leben können, neue und lebende Werte dar
stellen. Die Reisenden-Aufsätze über die Kunstschätze am Rhein, Main
und Neckar enthalten einen ganzen Schatz solcher lebender Werte, mit
dem die Leser wenig anzufangen wussten. Nun es aber gelungen ist, mit
Unbefangenheit zuzusehen und den Blick für die neuen Eindrücke offen
zu halten, stellt es sich heraus, dass es eine entzückende Reise ist, reich
an originellen Wahrnehmungen und Erfahrungen und an Ausblicken, die
über das Jahr 1814/15 bis reichlich 1906 und darüber hinaus reichen.
Schon die Art des Reisens und des Geniessens ist eine höchst vergnügliche
und angenehm belehrende, reichlich verschieden von der Art, wie man
sich heute in solchen Dingen zu benehmen pflegt; der heutige Reisende
sammelt in der Regel Hoteleindrücke. Der Hotelstandpunkt ist für seine
Kenntnis der fremden Stadt massgebend, und der kalt-staunende Besuch
in den Museen, die blinde Hast durch ein paar Säle, sind nicht geeignet,
die Dürftigkeit guter Reiseeindrücke wesentlich zu bereichern. An Goethe
können wir die Kunst des Reisens wieder lernen. Seinem Beispiel zufolge
war es massgebend, die Menschen zu besuchen, die den Ort berühmt oder
rühmenswert machten, ihre Ansichten, ihre Lieblingsbeschäftigung und die
Dinge kennen zu lernen, die sie pflegten und um deretwillen die Reise
fruchtbringend zu werden versprach. Eine Menge von Menschen mit ihrer
Individualität, ihren Vorzügen und Schwächen, ihren Wunderlichkeiten
und harmlosen Narreteien gehörten in die Reisegalerie und in den
wohlversicherten Seelenbesitz, ebenso wie die intime Kenntnis der gese
henen Dinge, die gleichzeitig eine sehr persönliche Physiognomie
gewannen. Nicht nur weil sie für den Ort bedeutsam waren, sondern
auch für den Besitzer, der eine Menge über die Herkunft des Gegenstandes,
über die Umstände der Besitzerwerbung und die sonstige Hausgeschichte
zu erzählen wusste. Kein Museumsbesuch kann diesen Wert bieten, als der
Besuch bei den Sammlern selbst, deren Liebe eine persönliche Beziehung zu
den Kunstschätzen herzustellen wusste, die sich auch dem Besucher mitteilt.
Der Empfang in Köln liefert den in unserer Zeit durchaus ungewohnten
Beweis, dass an der Kunstliebe nicht allein der kleine Kreis von Kunst
freunden, sondern ein grosser Teil der Stadtbevölkerung überhaupt beteiligt
war. Wir könnten es uns nicht erklären, wie anders es für die Bürger
schaft ein Festtag sein konnte, da ein längst vermisstes Bild für die Stadt
Zurückgewonnen wurde. ^
Das Kunstinteresse bleibt nicht allein bei der älteren Kunst oder einem
ihrer Zweige stehen* Es wird bekanntt dass die einheimischen zeitgenös
sischen Künstler in einer Stadt, die mit den heutigen Städten verglichen
winzig erscheint, reichlich beschäftigt waren* Schon damals gehörte es zu
den Pflichten der gebildeten Einwohnerschaft, die Reste der alten Kunst
zu sammeln und kleine Privatmuseen anzulegen, die einen anregenden
Kunstschatz bildeten* Von Auswüchsen war natürlich auch die gute Sache
nicht frei* Dass man, um die Sammelgegenstände gut unterzubringen, sti
listische ’Wanddekorationen schuf, die den Geist einer anderen Zeit vor
täuschten, ist ein nachmals zum Verhängnis entarteter Irrtum gewesen, der
damals in den unschuldigen Anfängen stand* Winkelmanns archäologische
Studien standen an der Schwelle dieses Beginnens* Es ist aber kaum zu
denken, dass die damaligen derartigen Versuche jemals so geschmacklos
ausfielen, als die abschreckenden Beispiele von Stilarchitektur, die wir
aus den heutigen Tagen vor Augen haben* q
Die Sammlertätigkeit erfüllte eine sehr bestimmte und wertvolle Kultur
arbeit* Es ist nicht leicht auszurechnen, welchen geistigen, künstlerischen
und zugleich wirtschaftlichen Wert eine Stadt durch die Anwesenheit
solcher Sammlungen erhielt* Die Kunstpolitik musste ein Augenmerk darauf
haben, denn die Wirkung der künstlerischen und sammlerischen Tätigkeit
strahlte nach vielen Richtungen aus* Die Stadt war ein Schatzkästlein,
und an dem Geheimnis der schönen und wertvollen Dinge, die es umschloss,
fand der Stolz und die Kunstliebe der Einheimischen JMahrung und An-
regung zum Erhalten und Erschaffen schöner Dinge, hielt die Nahen und
die Fernen in Atem* Wo es Wertvolles zu sehen gibt, strömen naturgemäss
die Menschen hin* Die Qualität und das Talent machen den Erfolg der
Wirtschaft aus* Dabei ward darauf gesehen, dass jeder Ort sein Eigenes
besass* Nicht die Nachahmung, sondern die Eigenart hielt das Interesse
und den Anreiz wach* ^
Aus dem gleichen Bedürfnis sind die Kunstsammlungen entstanden, die
ein durchaus lokales Antlitz zeigen* Was wir heute anstreben : Lokalmu
seen, welche die Geschichte und die Kunstentwicklung eines bestimmten
kleinen Gebietes zeigen, das Schaffen der Vergangenheit, die Pflege des
Gegenwärtigen und die Vorbereitung des Künftigen, finden wir auf Goethes
Reise in dem fertigen Beispiel vor* Es ist gut, dass wir daran erinnert
werden, was heute zu tun noch so vielfach verabsäumt wird* □
Der Ort, die Stadt und zuletzt der Staat haben ein wohlberechnetes Inter
esse an der Sache* Die private Sammeltätigkeit zu fördern, gibt ihnen
das Anrecht, sich als den künftigen Besitzer und Nutzniesser der Schätze
zu fühlen* Die Bildung und Entwicklung der Privatsammlungen fördert
die Entstehung der Museen* Diese Museen hatten so lange einen lebendigen
Anteil an dem Kunstleben der Stadt, als sie den privaten Charakter be
wahrten und einen Kreis von Mitgliedern um sich bildeten, die sich der
Pflege eines bestimmten Gebietes widmeten* □
Den festen Mittelpunkt der Kunsttätigkeit bildete die Architektur* Der
Domausbau war eine Aufgabe, die für die Entwicklung des ganzen Kunst
gewerbes eines Ortes oder Landes bestimmend sein konnte* Es soll
dabei erinnert werden, dass in unserem bureaukratischen Zeitalter zum un
berechenbaren Nachteil der wertbildenden Kräfte die Bautätigkeit leider
nicht als eine Aufgabe aufgefasst wird, die die Bestimmung hat, die ge
samte künstlerische und baugewerbliche Tätigkeit auf ein neues und
höheres Niveau zu bringen. q
Der Dilettant hatte eine wichtige Funktion in der Kunstpflege* Er war
eine ganz allgemeine Erscheinung seiner Zeit; der Umstand, dass sich die
Allgemeinheit dilettierend mit den Künsten zu beschäftigen pflegt und
kein Material unversucht liess, brachte eine gesteigerte Aufmerksamkeit
auf alle Zweige der künstlerischen und gewerblichen Tätigkeit mit und
ein Interesse, das den Berufenen als Förderung diente* Der Künstler und
Gewerbsmann war versichert, ein verständiges Publikum zu finden, das
den Wert seiner Arbeit schätzen oder durch Anregungen befruchten konnte*
Er stand nicht allein* Es ist gar nicht zu ermessen, wie hoch die quali
tative Leistungsfähigkeit und die werterzeugende Kraft des Volkes ge
steigert würde, wenn heute noch jene allgemeine künstlerische Bildung
so verbreitet wäre, wie es derzeit etwa die kaufmännische Bildung ist. □
296