UR GESCHICHTE DER ÖLMALEREI. Eines der interessantesten Kapitel
menschlicher Kultur bietet sich dem Studium dar, wenn sich die Wissenschaft gegen-
über der Kunst in einem Verhältnis wie der Arzt zum Patienten befindet.
Gleichwie ein vollkommen gesunder Mensch ohne jeglichen ärztlichen Beistand leben
und alt werden kann, so gibt es auch eine naiv schaffende, klare, vom Herzen kommende
und zum Herzen sprechende Kunst, die keiner wissenschaftlichen Lehre bedarf.
Doch schon allein die materiellen Umstände und Forderungen, sowohl des Lebens
als auch der Kunst vermannigfaltigen sich ins Unermeßliche und mit ihrer Vermehrung
steigert sich der Zwang zur streng folgerichtigen Verwendung der gebotenen Mittel. Die
durch Erfahrung gewonnenen Wahrheiten ordnen sich zum wissenschaftlichen System.
Durch Tradition erhalten und verbreitet, wird alles, was es in der Kunst Übertrag-
bares gibt, zum Gemeingut von Generationen von Fachgenossen.
Leider reißen jedoch die Fäden der Tradition nur zu häufig; vielleicht noch häufiger
werden sie aus Bequemlichkeit, ja aus Mißachtung freiwillig fallen gelassen. Vielfach finden
wir das Aufgeben mündlicher und schriftlicher Überlieferung durch das Schlagwort vom
„herrschenden Individualismus" beschönigt. Doch „Das Unzulängliche, hierwirds Ereignis".
Bei manchem Einsichtigen regt sich das Bedürfnis, die halb oder ganz vergessenen
Quellen der Kunstpraxis und ihre literarischen Sammelbecken wieder vom Schutte zu be-
freien. Einer hievon ist der Übersetzer und Herausgeber der „Materials for a History of Oil-
Paintingmt, und zwar jenes Teiles, mit dessen Veröffentlichung der Verfasser, Sir Charles
Lock Eastlake, noch selbst begonnen hat.
„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?" hören wir schon manchen ausrufen.
Freilich ist die Kultur- und Kunstperiode, in der die „Materials" sorgsam zusammengetragen
und kritisch beleuchtet wurden, dem Gedächtnis unserer Kunstbeflissenen ziemlich ent-
schwunden. Es war die Zeit Sir Robert Peels (dem das genannte Werk zugeeignet ward),
des unvergeßlichen Richard Cobden und der für England so bedeutsamen Anti-Cornlaw-
League. Wer will heute im täglichen Leben noch so weit zurückdenken?
Ein reger Eifer zeigte sich um diese Zeit bei englischen Kunstforschern und Kunst-
kennem, das Quellenstudium auf dem Gebiet der Kunst zu fördern. Neben Eastlake sei
nur an die treffliche Mrs. Merrifield erinnert und an den jüngeren Hendrie, der seinen
Landsleuten die Schedula diversarum artiurn des Theophilus erschloß. Die kunstwissen-
schaftlichen Arbeiten solcher Autoren zeigten ihren lebendigen Einfluß noch lange nachher,
so daB zum Beispiel in ihrem Sinne, durch ihre Anregung und Förderung besonders in der
Reformperiode der Sechzigerjahre auf dem Kontinent manche Werke der gleichen Tendenz
entstanden. Damals war wieder eine Epoche zu verzeichnen, da die Wissenschaft sich
erbot, mit ihren tonischen Mitteln einzugreifen und die erschlafften Bewegungen der
Weiterentwicklung der Kunsttechnik aufs neue anzuregen. Die Wissenschaft ist in solchen
Fällen immer der Arzt, der dem Hilfebedürftigen freiwillig beispringt - ohne auf Dank
zu rechnen.
Mit der deutschen Ausgabe der Abhandlung Eastlakes wird das Quellenmaterial zur
Geschichte der Ölmalerei unserer Beachtung abermals nahe gerückt, aber auch die Frage
der Erfindung dieser Maltechnik - eine solche besteht wohl noch immer - aufs neue auf-
geworfen. Es ist mit gutem Grund zu hoffen, daß diese Anregungen auch zu besonderen
Untersuchungen der Bedeutung ätherischer Öle für die Entwicklung der Technik der Öl-
malerei, vornehmlich der Erzeugung der Firnisse führen werden. Die Einführung und Ver-
wendung der Destillationsprodukte bezeichnen, nach der Anschauung des Schreibers dieser
Zeilen, eine sehr wichtige Epoche der Malerei und ihr Studium, insbesondere in Beziehung
auf die Kunst der Brüder van Eyck dürRe wohl noch zu ungeahnten Ergebnissen führen.
Mit Recht konnte sich der Herausgeber vorläufig auf eine im wesentlichen unver-
änderte Wiedergabe des Originaltextes beschränken. (Vorkommende Änderungen betreffen
' Materials for a History of Oil-Painting von Charles Lock Eastlake, ins Deutsche übertragen von julius
Hesse. Wien und Leipzig, A. Hartleben, 1907. 8'.