40
wie ihn Sebastianus Aeernus nennt, seine Gewürz-, Teppich- und Perlenlager ängstlich
hütete und sich eine morgenländisch angehauchte Filiale seiner fernen Heimat schuf. Die
armenische Kirche und ihre nächste Umgebung bilden ein Gegenstück zum „rnthenischen
Winkel", den wir oben beschrieben. Die Kirche ist klein, schlicht, gesenkt, aber trotz
vielfacher Umgestaltung, der sie im Laufe der Zeit unterlag, merkt man ihr an, daß sie
einer der ältesten Tempel Lembergs ist. Ihren Ban führt man in die Zeit Kazimirs des
Großen zurück, als Baumeister wird ein mythischer Dore genannt, der wohl mit dem
Baumeister Döring aus dem Ende des XIV. Jahrhunderts identisch sein dürfte. An und
für sich bietet die Kirche nicht viel geschichtlich oder künstlerisch Merkwürdiges, aber im
Zusammenhang mit der nächsten Umgebung, mit dem Kreuzgang, dem Eingangsthnrm,
den kleinen Hofen, die gänzlich mit steinernen, flachen Grabplatten gepflastert sind, ans
denen noch gemeißelte armenische Inschriften und krause Familienwappen zu sehen sind,
mit den Schwibbogen, die in das erzbischöfliche Palais und in die „armenische Bank"
(eine von Geistlichen geleitete Pfandanstalt) führen, endlich mit dem anstoßenden
armenischen Nonnenkloster, als Agglomerat genommen, bildet sie ein recht stimmungsvolles
Ganzes, das die Einbildungskraft eines mit Lembergs Vergangenheit vertrauten
Beobachters mit einem sagenhaft historischen Schimmer umwebt und dem auch der
unbefangene Fremde den Reiz eines altoriginellen, exotisch anmuthenden Culturbildes
nicht absprechen wird.
Die alte innere Stadt, deren Raum durch Festungswälle und Ringmauer begrenzt
war, hat ihre Hauptader in zwei Straßen, auf denen stets ein sehr lebhafter Verkehr
herrscht und die on miniature an die Wiener Kärntner- und Rothenthurmstraße
erinnern. Es sind dies die Krakauer- und die Haliczerstraße, beide einst durch Stadtthore
desselben Namens geschlossen. Diese Thore begrenzten die Stadt gegen Norden und
Süden; gegen Osten schloß sie mit der Bernardinerkirche, gegen Westen mit der Jesuitcn-
kirche ab. Was jenseits liegt, bildet die neue Stadt, und das Wort neu ist hier in seiner
vollsten Bedeutung zu nehmen, da mit Ausnahme des alten Judenviertels, des „Krakauer
Ghetto", und einiger Vorstadtkirchen, die ebenfalls in die weitere Vergangenheit, zumeist
in das XVII. Jahrhundert zurückreichen, fast alle Gassen im laufenden Jahrhundert
erstanden sind oder neu regulirt wurden. Gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts wurden
die Stadtwälle in Promenaden, die alten Thorbefestignngen in Plätze umgewandelt — so
entstanden die Hetmans- und die Gouverneurpromenade, der Haliczer-, Krakauer-, der
heilige Geist- und der Marienplatz. Das neue Lemberg hat sich in den letzten 25 Jahren
mit stannenswerther Raschheit entwickelt und auf allen Gebieten des Verkehrs- und
Communalwesens Fortschritte gemacht, wie sie kaum einer von seinen Einwohnern aus
der Stagnationsperiode der Fünfziger-Jahre je anzuhoffen, ja zu ahnen gewagt hätte.