L.: HOLLÄNDISCHE REISESKIZZEN
VII.
DORDRECHT
ine der fterbenden Städte mit allen rührenden Merkmalen:
finkende Häufer, verödende Grachten, ein fchleidbender
Verkehr. Die Stadt ift ganz matronenhaft. Die Stimmen
der Vergangenheit fprechen hier lauter als fonftwo. Die leeren
Giebelhäufer träumen von dem Reichtum der Handelsgüter, den
fie beherbergten. Verfponnen hinter Blumenfenftern liegt das
Leben in den Käufern am oude Haven, die aus dem Waffer
ragen, ein kleines nordifches Venedig. Es ruht aus; es war
allzu früh am Tage, und bat feinen Jugendglanz und Macht-
befitj weit in der mittelalterlichen Vergangenheit zurückliegen.
Unter den bolländifcben Städten ift Dordrecht die bochbetagte;
fie trägt, wie es der Matrone geziemt, die Tracht und den
Schmuck ihrer beften Zeit, feltfam und anmutig in der Verblichen-
beit einer unwiderruflichen Kunft; Stücke, die koftbar find wie
altes Gefcbmeide: die gotifcben Häufer mit den pbantafievoll ge
meißelten Kragfteinen, die ihrer Jugend angeboren; der reifen
Frau brachte Italien den Tribut der Renaiffancekunft, in nor«
difcber Bildung; am Eintritt ins filberne Filter empfing fie die
Blumengewinde des galanten Barocks, damit die Portale der
Patrizierbäufer gefcbmückt find, weiße Feftons an dunkelrote
Backfteinwände gehängt oder mit laftender Fülle an den ein
fachen und ausdrucksvollen Torarcbitekturen niederriefelnd; der
Greifin wollte der Klaffizismus eine neue Filterswürde verleiben
und brachte manchen altmodifcben Stein, wie das gotifcbe Rat
haus, in die neue Faffung des rückfchauenden Empireftils. Sie
verharrt nun, umgeben von ihren Hauskleinodien und Rubmes-
zeidben, in befcbaulicber Ruhe und läßt die arbeitsgewobnten
Hände finken, die den laftenden Segen der neuen Zeit nicht
mehr empfangen können oder wollen. Sie fiebt von fernher
zu, wie jüngere, robuftere Firme die neuen Bürden des Reich
tums ergreifen, das aufftrebende Rotterdam, das keine Ver
gangenheit bat, dafür aber voll Gegenwart und Zukunft ift, vom
Lärm des modernen Weltverkehrs und Welthandels erfüllt,
mit Hilfe einer vorgefchrittenen Technik den Zug ins Riefen-
bafte nimmt, der fidb vorderhand noch ins Formlofe und Cbaotifcbe
verliert. Mit ihrem Riefenbafen, den kotoffalen Seefcbiffen, dem
Gewimmel von Seglern und Dampfbooten, den mächtig ge-
fpannten Brücken, dem unaufhörlich rollenden Wagen- und Laften-
verkebr, den Waren- und Menfcbenfrachten, die den überfeeifchen
Weg geben, ift die Stadt Rotterdam die zukunftfichere Rivalin
FImfterdams und die Erbin der Weltmachtftellung der alten
bolländifcben Handelsftädte. Das ift beute der entfcbeidende
Unterfdbied: Rotterdam bat das Leben, Dordrecht bat die Form.
Dort ein Werdendes, das Ringen neuer Weltkräfte, hier die
leere Hülle einer befiegelten Vergangenheit. Diefe wird mit ihren
fcblummernden Gebeimniffen die Sebnfucbt ewig locken; über
die verfiegten Brunnen ihres Lebens werden lieh die den Selbft-
verftändlichkeiten des FHltags entfliehenden Seelen ewig beugen,
und ein Labfal aus den Quellen des Myfteriums, die das Dafein
umfließen, beifeben. Sie werden immer an den Steinen lefen
und den alten Zeichen neue Deutungen zu geben, die Schatten
des Geiftes zu ergreifen trachten, der an den Wänden, in den
Skulpturen und Bildern, in dem vergilbten und verjährten Kram
fortträumt. Diefe Schatten können nicht verblaffen, fie gehören
zu dem beften Seelenbefitj der Lebendigen, mit Geifterbänden
umklammern fie das Leben und wirken hier noch trot) der
Jabrbundertferne mit ihrer rätfelbaften Gegenwart, die keine
Scheidelinie von Tod und Leben kennen will. So groß ift die
Macht eines feböpferifeben Dafeins, daß es, über die eigene
menfcblicbe Vergänglichkeit hinaus, die Seelen nachfolgender Ge»
fcblechter immer wieder zu neuer Kraft entzündet. Darum wird
die Klage und Schmerz tiefbedeutfam und berechtigt fein, wenn
aus der feftgefügten Mauerkrone eines entwicklungsreicben,
wenn auch nun febon entfcblummerten Stadtlebens ein Stein
fällt und pietätlos zerftört wird. Wie reich uns Heutigen die
alte Krone Dordrecbts dünkt, fie bat fo viele Steine verloren,
daß fie faft nur mehr ein Brucbftück ift. Was Jahrhunderte
erbaut haben, das batten die lebten dreißig Jahre ihr entriffen,
foviel, daß die in diefer Zeit abgebrochenen Bauwerke allein
eine einzigartige, wundervolle alte Stadt bilden könnten. Die
herrlichen Stadttore der bolländifcben Backfteinrenaiffance, St. J oris-
poort, Spuipoort, Vuilpoort, Riedijkfcbe Poort, Melkpoortjeu. v. a.
leben nur in der Erinnerung der alten Leute und in alten
Bildern; mit den Kaufmannsbäufern von St. Jooft, »de Kroon
van Denemarken«, Haus Samfon find klaffifche Beifpiele altbollän«
difcher Stadtbäufer untergegangen. Wertvolles wurde nieder-
geriffen; das Wenige, das neu gebaut wurde, bildet ein totes
Glied, dem keine individuelle oder künftlerifcbe Bedeutung zu
kommt. D
Unter dem immerhin noch überaus anfebnlichen Schatj an
Flltertümlicbkeit ragt das Kronjuwel übermächtig hervor: der
große Dom, mit dem ftattlicb hoben und gleichmäßig breit auf«
ftrebenden Turm, eines der charakteriftifchen Wahrzeichen alt«
bolländifcher Städte. Wie in den Delfter Domen wandelt auch
hier der Fuß auf Koftbarkeiten, auf bildet- und fchriftbedeckten,
reich fkulptiertem Steinboden, feben von den weißen kahlen
Wänden die Plaftiken der Grabmäler mit feltfamer Eindringlich
keit nieder; mit der gleichen brutalen Härte, wie in den andern
Domen des Landes, ift auch hier das nüchterne kunftlofe Holz«
geftüble der proteftantifchen Kirchengemeinde eingebaut, febwung«
lofe kable Predigerlogik in der überwältigenden Myftik der auf
mehr als einem halben Hundert himmelhoher Pfeiler ruhenden
Gewölbe. Frei vom religiöfen Dogma darf die moderne Senfi-
bilität ficb rückhaltlos den Seelenfcbauetn bingeben, die von der
kühnen Flbftraktion diefer Raumgebilde erweckt werden; die
Seele mag zitternd die Weite diefer fliehenden Wölbungen um«
faffen und fie mit den myftifchen Empfindungen und Vorftellungen
ihrer Einbildungskraft bevölkern oder mit liebender Inbrunft
die Lieblichkeit der gemeißelten Blumen an den Kapitalen oder
anderer wartender Symbole ergreifen, die eine ähnliche Innig
keit ausdrücken und das Streben ihres Urhebers einfcbließen,
die empfundene Größe mit gleicher Flndacbt und Liebe auch
im Kleinften zu verkörpern und damit das eigene Selbft dar-
zuftellen. Fllle diefe Werke, die die fruchtbare Sphäre der Emp
findung zu fteigern vermögen oder eine Offenbarung diefer
gefteigerten Empfindung bilden, find voll belebender Kraft und
als künftlerifcbes Gut unabhängig von der Engbrüftigkeit der
kirchlichen Glaubensgemeinfchaft, die eine riefige Holzkifte im
Dom aufftellt und in der Holzkifte ihre Flndacbt hält. Fiber die
Teilnahmslofigkeit für die Wunder der Domwelt außerhalb der
Holzkifte batte vielleicht infofern ein Gutes, daß die Schönheit
von der entweihenden FIntaftung durch fogenanntes Reftaurieren
verfchont blieb. Diefes Wunder rettete das herrliche gefchni^te
Cborgeftüble, ein Glanzpunkt nicht nur des Domes, fondern von
ganz Holland. Es wurde von Jan Terwen Flertsz 1538-1542 ge«
febnitjt, die Darftellungen in den Rücklebnen zeigen der Haupt
fache nach einerfeits den Triumph der Kirche, andererfeits den
Triumph Kaifer Karls V. Der Inhalt ift nicht das Wicbtigfte; ich
lefe grundfätjlicb keine Befcbreibungen oder Inhaltsangaben, weil
fie von der Hauptfache abzieben, die für mich darin beftebt, eine
föböne Handarbeit zu feben, in der ein Menfch feine Empfindungen
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