wie er im Naturalismus nicht an Indien oder Ostasien heranreicht. In der
großen ruhigen Gliederung aber, sowohl was Zeichnung als was Farbe
betrifft, ist der Orient wohl unerreicht. Und so lange nun diese Art des
Schmucktriebes auch in Europa herrschte, was, wie gesagt, im eigentlichen
Mittelalter der Fall war, so lange mußte der Orient sowohl aus inneren als aus
den erwähnten äußeren Gründen Europa überlegen sein. Dieses Verhältnis
hat, so viel wir heute sehen können, übrigens auch der ostasiatischen Kunst
früherer Zeit gegenüber Gültigkeit gehabt.
Zunächst nach der Antike ist der Orient natürlich vor allem byzantinisch
und sassanidisch. Dann tritt das eigentliche Mohammedanische hervor; aber
begreiflicherweise nicht sofort nach der Gründung und Verbreitung der
Religion. Es ist hierüber ja schon in der Einleitung zu diesen Berichten
gehandelt worden.
Es entspricht nun jedenfalls unserer heutigen Auffassung des Ent-
wicklungsgedankens, daß man in der Münchner mohammedanischen Aus-
stellung auch eine Reihe von Werken, insbesondere auch Stoffe, vorgeführt
hat, die zwar nicht als Beispiele mohammedanischer Kunst, aber als Vor-
stufen zu ihr gelten können.
So finden wir in der Ausstellung eine Anzahl jener tapisserieartig aus
Wolle in Leinwand gearbeiteten Gewebe, die zunächst ägyptischen Gräbern
der spätantik-frühmittelalterlichen Zeit entstammen und besonders durch die
sogenannten Grafschen Funde bekannt geworden sind. Wie wir schon an
anderer Stelle zu beweisen gesucht haben, handelt es sich bei diesen
Erzeugnissen zum großen Teil um volkstümliche, hausgewerbliche Nach-
ahmungen von Seidenstoffen vorderasiatischer und zum Teile sogar ost-
asiatischer Herkunft, so daß uns diese einfachen und oft sehr entarteten
Arbeiten doch vielfach eine erwünschte Ergänzung unserer beschränkten
Kenntnis früher SeidenstoHe bieten.
Unter den ausgestellten ägyptischen Funden der eben erwähnten Art
finden sich auch solche mit langmaschig gewebtem (genopptem) Grunde
mit derart ausgeführten Ornamenten und Köpfen. In solchen Arbeiten haben
wir eine Vorstufe der späteren Samtgewebe und auch der Knüpfteppiche
zu erkennen.
Ein von Martin ausgestelltes ganz tapisserieartig ausgeführtes Woll-
gewebe mit Darstellung großer, streng stilisierter Adler gehört zwar nicht
in so frühe Zeit, zeigt aber, wie weit sich die Volkskunst - und nicht nur
die des Orients - von naturalistischer Darstellung entfernen kann: in dem
streng nach einer Seite gerichteten Kopfe sind beide Augen nebeneinander
zu sehen. Wir erkennen hier deutlich, wie die Volkskunst, gleich den Arbeiten
der Kinder, nicht nach unmittelbarer, zur Darstellung angestellter Beobach-
tung, sondern aus der allgemeinen Erinnerung schafft. Daß der Kopf eines
Vogels sich der Erinnerung mehr in der Seitenansicht einprägt, ist wohl
begreiflich; daher wird dieses Erinnerungsbild bei der Darstellung gewählt.
Da sich der primitive Künstler zugleich aber auch erinnert, daß der Vogel