,ER SACRUM.
Die, »ästhetische Erziehung desMenschengeschlechts“
ruht heutzutage beim Telegraphen. Wo jedes Wort Geld
kostet, da lernt man sich knapp fassen. Und die anderen
wieder lernen, die knappen Fassungen verstehen. Was
anfangs Nothdurft war, später wurde es Geschmack.
Staunend erfuhr man, wie viel Worte entbehrlich sind,
und alles Entbehrliche empfand man als lästig. Das Lästige
aber gilt uns als das eigentliche Unästhetische: alles Lang-
athmige bringt uns um!
Kann es anders sein in einer Zeit, in der man keine
Zeit hat ? Wo man früher sich behaglich dehnte, da rast
man jetzt wie besessen vorüber. Wo man ehedem ver
gnüglich lauschte, da reisst man sich jetzt voll Ungeduld
die Worte aus dem Munde. Rasch und präcis die That-
sachen her, damit wir rasch und präcis combinieren können!
Zum Teufel mit allem überflüssigen Hokuspokus! Wir
haben keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit!
So wollen wir auch in der Kunst stets nur den in
timsten Extract — das Wesentliche, mit Überspringung
der leicht ergänzbaren Zwischenglieder. Warum sollte ein
Dichtwerk nicht aus aneinandergereihten Telegrammen
bestehen können ? Darin steckte wohl gar eine besondere
Wollust! Jeder Satz strengfür sichherausgemeisselt: klar,
umspannend, erschöpfend. Jeder auf einen besondersten
Ton gestimmt. Alle durch ein unsichtbares Band geheim
nisvoll, vieldeutig zusammengehalten. Inmitten all der
Knappheit und Präcision, gleichsam drüber hinweg, das
Unausgesprochene als das Eigenthümlich-Poetische. Und
daraus die Unendlichkeit der Anregung, der Stimmung.
Auf alten Runeninschriften verstand man sich auf diese
Stilkunst bereits sehr wohl. Heute, im Zeitalter des Tele
graphen, willsie, von völlig entgegengesetzten Bedingungen
her, aufs neue ins Leben springen.
Und so auch in den bildenden Künsten. Auch diese
haben ihren Telegrammstil. Was sind unsere modernen
Placate anderes als gemalte Telegramme? Um sich weit
hin sichtbar zu machen, arbeiten sie gleichsam bloss mit
Fragmenten, deren Zusammensetzung dem Zuschauer
zufällt. Darin aber besteht alsdann die Kunst: die Frag
mente so zu wählen und zu ordnen, dass die Phantasie des
Beschauers völlig davon bezwungen wird! Sie soll und
muss den Weg gehen, den der Künstler ihr vorschreibt.
Sie muss einem suggestiven Zwang unterliegen und da
durch entbunden werden.
So wurden die Placate die Lehrmeister der sugge
stiven Linie und der suggestiven Farbe. Aber sie konnten
uns nur das Gröbste davon lehren. Da sie auf hunderte
von Metern wirken wollen, so müssen sie der besonderen
Feinheit entsagen. Diese wird erst ermöglicht, wo man
ein Blatt in die Hand nehmen kann, oder wo es von den
nahen Wänden unserer Stuben uns freundlich anblickt.
Die Kunst der Lithographie, deren sich die Placate be
dienen, hat aber auf alle Fälle durch die neue Weise einen
äusserst wirksamen Anstoss bekommen. Sie ist sich jetzt
ihrer Kraft und ihrer Aufgabe schärfer bewusst geworden.
Doch, wo das Placat schrie und heftig gesticulierte, da
versteht die „Künstler-Lithographie“ zärtlich zu flüstern
und sich liebevoll einzuschmiegen.
Ein ganz neues, allerintimstes Leben unserer Zeit
blüht uns aus den modernen Künstler-Lithographien ent
gegen. Sie verbinden jene knappe, andeutende Sprache,
die wir kaum mehr missen mögen, mit duftiger Weichheit,
Studie für d.
Holzeinlege
arbeit zum]
Paravent v.
J. Engelhart.