Schule." Beide Figuren geben sich ohne weiteres als eng verwandt mit der
Gossensaßer Barbara zu erkennen, und ich stehe nicht an, sie dem gleichen
Schnitzer zuzuschreiben. Stilistisch und damit wohl auch zeitlich näher
steht dieser die Nürnberger Figur; der Körperaufbau ist der gleiche, auch
die Anordnung der Falten folgt in allen wesentlichen Motiven der Figur
in Gossensaß - man beachte vor allem den Wellenschlag der Fußfalten
über und zwischen den breiten Schuhen -, nur daß eine größere Zurück-
haltungin den kleineren Faltengebilden herrscht. Sehr bezeichnend ist für
beide Figuren der Schnitt der in offenen Strähnen über Schultern und Brust
fallenden Haare, die nur bei der heiligen Barbara noch technisch gekünstelter
als bei der Maria sind. Ein weiteres Bindeglied bildet endlich das Jesuskind,
das mit den Kindern der Sippenszenen in den Proportionen und im Schnitt
der Haare sich durchaus deckt, mit seinem ausgesprochenen Mohren-
typus zugleich aber auch auf die Putten des Sterzinger Lusterweibchens
verweist.
Die Madonna der Sammlung Wilczek reiht sich unmittelbar an die
Nürnberger Figur und bildet zu ihr eine Spiegelbildvariante. Auch hier ver-
harren die Falten bei dem alten Schema. Die Gestalt aber hat an Größe und
Wucht gewonnen. Die Schultern fallen nicht mehr in scharfer Linie ab,
sondern sind hochgezogen, breit und voll, die Brust wölbt sich kräftiger, und
die ganze Figur schließt sich in größeren Linien zu einer stattlicheren warm-
blütigeren Erscheinung zusammen. Sie rückt im Vollbesitz der gesunden
Glieder in die unmittelbare Nähe der Lucretia, deren kleine geiiügelte Be-
gleiter in dem etwas muffig verdrossenen Jesuskind die Herkunft von gleicher
Hand am deutlichsten bekunden.
Wie oben schon erwähnt, dürfte der Barbara-Altar in Gossensaß zwischen
x5ro und 1515 entstanden sein. Das Leuchterweibchen des Rathaussaales
in Sterzing schloß sich jedenfalls unmittelbar an den Bau des Erkers an,
der das Datum 1524 trägt. Die beiden Madonnen bilden die Bindeglieder.
Die stetig aufsteigende Linie ist unverkennbar; die Sterzinger Lucretia stellt
den letzten und bedeutendsten Aufschwung und den künstlerischen Höhe-
punkt des Meisters dar. Zu der formalen Reife und Vollendung tritt noch
das seelische Moment, das bei den früheren Werken des Schnitzers ganz im
Hintergründe stand. Der prächtige Kopf der antiken Märtyrerin mit dem
schwärmerisch-schmerzlichen Ausdruck erhebt sich überhaupt weit über
alles Gleichzeitige der Holzplastik Tirols. Dennoch wird man, wenn irgend-
woher, nur von den erwähnten Bildwerken diese Steigerung ableiten dürfen,
mit deren zeitlich am nächststehenden es vor allem auch im Kopfe die
gleichen formalen und technischen Ausdrucksmittel gemein hat. Am deut-
lichsten tritt dies in der Nasenbildung, den hochgeführten Augenbogen und
den fein unterschnittenen Lidern zutage. Fast gewinnt es den Eindruck, als
ob der Bildhauer hier unmittelbar nach dem lebenden Modell unter Zu-
grundelegung des seelischen Leitgedankens gearbeitet hätte.
" Allgemeine Zeitung, München. xgog, Nr. 33.