Von der Hand des gleichen Meisters stammt ferner die kleine Statue
eines heiligen Laurentius im Ferdinandeum in Innsbruck (Abb. 8), für die
sich die engen Beziehungen zu dem gleichnamigen Heiligen des Gossensaßer
Altarschreines ohne weiteres ergeben; jedoch gehört die Innsbrucker
Statuette schon einer entwickelteren Zeit des Meisters an. Man wird sie
ungefähr gleichzeitig oder etwas später als das Lusterweibchen setzen
dürfen. In ihrer freieren geschmeidigeren Auffassung berührt sie sich eng
mit den gleichzeitigen Werken des Meisters von Rabenden und des Unter-
inntals und bildet deshalb eines der wichtigsten Bindeglieder zwischen der
bayerischen und Tiroler Kunst des frühen XVI. jahrhundertsft
Als ein weiteres Werk des gleichen Bildschnitzers ist auch der Kruzi-
fixus der St. Barbara-
Kapelle in Gossensaß
anzusprechen (Abb. 9)."
Wenn sich auch für
das Thema selbst keine
geeigneten Vergleichs-
stücke bieten, so spre-
chen doch technische
und formale Gewohn-
heiten für die gleiche
Hand. Zunächst ist es
die Augenbildung mit
den für den Bildhauer
sehrbezeichnendenrund-
gratigen Liderrändern,
der Schnitt des Mundes,
die Anlage und Technik
des Bartes, der sich in
Abb. n. Mariä Tempelgang, Holz-
schnitt B. 6 von Albrecht Altdorfer
der gleichen Lösung
und Aufteilung bei dem
Alphäus auf dem Sippen-
relief des rechten Flü-
gels findet, und das auf
die Schultern herabfal-
lende Haupthaar mit
seiner Teilung in einzel-
ne sich verschlingende
Strähnen; ganz wie wir
es bei der Figur der
heiligen Barbara am
Altar sehen. Der Chri-
stuskörper ist in seinem
anatomischen Aufbau
sehr gut beobachtet, na-
mentlich lassen der gut
modellierte Thorax und
die eingefallene Bauchgrube den Ernst eines sorgfältigen Naturstudiums
erkennen, wie es in den Christusbildern gerade Tirols nicht allzu häufig zu
finden ist. Das Fortschrittliche in dem Bedürfnis nach möglichster Wahrheit
tritt selbst neben so bedeutenden Leistungen, wie dem Cruzifixus in Bruneclä"
oder jenem aus Fulpmes im Stubai, jetzt im Dom zu Breslaufr zutage.
Freilich klebt dabei der Bildhauer doch auch noch an Gewohnheiten der
Vergangenheit, das bekundet vor allem die schematische Angabe der Adern
an den Armen und Oberschenkeln. Leider hat das Werk durch mehrfache
Übermalungen gelitten, trotzdem versagt aber das Haupt nicht eine tiefe
Wirkung. Seine Entstehung wird man ziemlich gleichzeitig mit dem Barbara-
3 Philipp Maria Halm, Der Meister von Rabenden und die Holzplastik des Chiemgaues in dem Jahrbuch
der preußischen Kunstsammlungen, Band XXXI! (rgxx), S. 59.
' H Heinrich von Woemdle 1.1. 0., S. 5x. Die dort gebrauchte Bezeichnung "Dürerkreuz" hat keine
Berechtigung. Nach welchem „bekannten Crucifixus Dilrers" es geschnitten sein soll, ist nicht ersichtlich; jeden-
falls hat es zu keinem der Diirerschen Blätter irgendeine Beziehung.
'" Friedrich Wolff, Michael Pacher, Berlin, I (1909), Tafel 95.
1' Hans Semper a. a. 0., S. 270.