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Volltext: Monatszeitschrift XVIII (1915 / Heft 6)

DAS LUSTERWEIBCHEN IM RATHAUS ZU 
STERZING - AUS DEM BEREICHE JOERG 
KQLDERERS 50' VON PHILIPP MARIA HALM- 
MÜNCHEN Sie 
S ist eine nicht seltene Beobachtung, daß Werke der 
bildenden Künste, falls sie nicht inschriftlich oder 
archivalisch als Schöpfungen eines unserer großen 
Meister verbürgt sind, trotz ihrer besonderen künst- 
lerischen Vorzüge jahrzehntelang der Forschung 
entrückt bleiben. Der Beschauer nimmt sie freudig 
E, . hin als ein Geschenk der Kunstübung vergangener 
Zeiten, ohne sich lang mit dem „Wie und wann und 
von wem" zu befassen und vergißt in dem Genusse, 
daß sie schließlich doch auch Angelpunkte für die 
Kunst ihrer Entstehungszeit sein können. Wie lange währte es zum Beispiel, 
bis erst durch die Verdienste Konrad Fischnalers und Franz von Rebers die 
Bedeutung und der hohe Wert der Gemälde und Skulpturen des ehemaligen 
Sterzinger I-Iochaltars für die Entwicklungsgeschichte der deutschen Kunst 
erkannt und dadurch Hans Multscher von Ulm in den Mittelpunkt der 
schwäbischen Kunst des XV. Jahrhunderts gerückt wurde. 
Neben den Resten des Hochaltars birgt Sterzing noch ein anderes 
Kunstwerk, das, oft beschaut und viel bewundert, mehr noch vielleicht als 
Multschers Altartafeln, in dessen unmittelbarster Nachbarschaft es sich 
befindet, den Namen des schmucken Städtchens in die Lande trägt. Ich 
meine das Lusterweibchen im Erkersaal des Rathauses (Abb. r bis 3 und 22). 
Das „Sterzinger Lusterweibchen" - so spricht von ihm der Volksmund 
und die zahllose Schar der Kunstpilger Tirols als von etwas Allbekanntem 7 
ist einer jener traulichen Beleuchtungskörper, die der Anfang des XVI. Jahr- 
hunderts bezeichnenderweise „Gehürne" zu benennen pilegte. Die Halbfigur, 
die zwei mächtigen Steinbockhörnem als Ausgang dient, stellt die edle 
Römerin Lucretia dar, wie sie, empört durch die ihr angetane Schmach des 
Sextus Tarquinius, sich mit dem Schwerte den Tod gibt. Sie trägt das modische 
Gewand der Frührenaissance, ein weit ausgeschnittenes bortiertes Leibchen, 
aus dem sich die vollen Formen der Brust drängen, mit weiten kurzen 
Armeln. Das Nacken und Schultern verhüllende Fürtuch oder Hemd, über 
das sich eine schwere Goldkette mit torsierten Gliedern legt, schraubt sich 
aus den Ärmeln um die kräftigen Arme und flattert wie im Winde zur Seite. 
Eine Haube mit einem Zackenrand läßt nur einigen wenigen Haarwellen 
freie Bahn. In der Linken hält die Römerin einen Lichtträger in Form eines 
Füllhorns, die ausgestreckte Rechte von außerordentlich feiner anatomischer 
Beobachtung richtet das Schwert gegen die Brust. Das Haupt weicht in der 
Vorahnung des Schmerzes und mit dem Ausdruck des wollüstig ersehnten 
 
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