den er der Kunst zuweise, sei ihr wirklicher einziger Zweck. Dem
gegenüber könnte sich der Ästhetiker die Sache eigentlich bequem
machen und sich auf den Standpunkt zurückziehen: Da die Ansichten
nun einmal so verschieden sind und keine der zahlreichen Weltan-
schauungen eine allgemeine Giltigkeit für sich in Anspruch nehmen
kann, frage ich nach dem Zweck der Kunst im höheren Sinne über-
haupt nicht, sondern nur nach ihrem unmittelbaren nächstliegenden
Zweck, nämlich dem, Genuss zu bereiten. Mag jeder die Kunst
benutzen, wozu er wolle, ihren höheren Beruf sehen, worin er wolle,
mich geht nur ihre Schönheit etwas an. In der That halten es die
Ästhetiker heutzutage in erster Linie für ihre Aufgabe, die rein
ästhetischen Lustgefühle, die die Kunst verursacht, zu analysiren.
Und wenn sie miteinander in Streit gerathen, so geschieht es wohl
über die Frage, wie diese Lustgefühle zustande kommen und was
innerhalb derselben die Hauptrolle spielt, nicht aber über die, was
jenseits des unmittelbaren Kunstgenusses liegt.
Und doch ist es gewiss, dass die Kunst mit der Erzeugung des
ästhetischen Genusses nicht ihr letztes Wort gesprochen hat. Mit
Recht hat Tolstoj noch kürzlich betont, dass man die Bestimmung
der Kunst ebenso wenig im Genuss sehen dürfe, wie die Bestimmung
der Nahrung in ihrem Wohlgeschmack. Nutzen und Wohlgeschmack
fallen nicht immer zusammen. Gerade Speisen, die uns besonders gut
schmecken, sind unserer Gesundheit oft nicht zuträglich. Und über
den Wert der Nahrung entscheidet nicht ihr pikanter Geschmack,
sondern ihre Zuträglichkeit und ihr Nährwert. Man mag wohl zugeben,
dass der Künstler beim Schaffen seines Kunstwerkes keinen anderen
Zweck verfolgt als den, zu reizen, ästhetischen Genuss zu bereiten.
Aber die Kunst muss ausserdem noch einen anderen höheren Zweck,
gewissermassen einen Nährwert haben, und der Ästhetiker hat nicht
nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, auch diesen zu ermitteln.
Wir knüpfen dabei wieder an Tolstoj an.
Tolstoj definirt die Kunst als ein Mittel, durch welches sich die
Menschen gegenseitig ihre Gefühle mittheilen. Das Eigenthümliche
und specifisch Künstlerische dieser Gefühlsmittheilung sieht er darin,
dass der Künstler sein Publicum ansteckt, ihm seine eigenen Gefühle
octroyirt. Die Kraft der Ansteckung, mit der ein Kunstwerk wirkt, ist
für ihn das Entscheidende, das, worauf die Güte eines Kunstwerkes in
erster Linie beruht. Tolstoj berührt sich hierin eng mit der deutschen
Illusionsästhetik, die ja auch den Wert eines Kunstwerkes nach der
Kraft der Illusion bemisst, mit der der Künstler dem Geniessenden eine
Vorstellung, ein Gefühl zu octroyiren weiss. Das Wesen dieser Illusion