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Volltext: Monatszeitschrift II (1899 / Heft 8)

den er der Kunst zuweise, sei ihr wirklicher einziger Zweck. Dem 
gegenüber könnte sich der Ästhetiker die Sache eigentlich bequem 
machen und sich auf den Standpunkt zurückziehen: Da die Ansichten 
nun einmal so verschieden sind und keine der zahlreichen Weltan- 
schauungen eine allgemeine Giltigkeit für sich in Anspruch nehmen 
kann, frage ich nach dem Zweck der Kunst im höheren Sinne über- 
haupt nicht, sondern nur nach ihrem unmittelbaren nächstliegenden 
Zweck, nämlich dem, Genuss zu bereiten. Mag jeder die Kunst 
benutzen, wozu er wolle, ihren höheren Beruf sehen, worin er wolle, 
mich geht nur ihre Schönheit etwas an. In der That halten es die 
Ästhetiker heutzutage in erster Linie für ihre Aufgabe, die rein 
ästhetischen Lustgefühle, die die Kunst verursacht, zu analysiren. 
Und wenn sie miteinander in Streit gerathen, so geschieht es wohl 
über die Frage, wie diese Lustgefühle zustande kommen und was 
innerhalb derselben die Hauptrolle spielt, nicht aber über die, was 
jenseits des unmittelbaren Kunstgenusses liegt. 
Und doch ist es gewiss, dass die Kunst mit der Erzeugung des 
ästhetischen Genusses nicht ihr letztes Wort gesprochen hat. Mit 
Recht hat Tolstoj noch kürzlich betont, dass man die Bestimmung 
der Kunst ebenso wenig im Genuss sehen dürfe, wie die Bestimmung 
der Nahrung in ihrem Wohlgeschmack. Nutzen und Wohlgeschmack 
fallen nicht immer zusammen. Gerade Speisen, die uns besonders gut 
schmecken, sind unserer Gesundheit oft nicht zuträglich. Und über 
den Wert der Nahrung entscheidet nicht ihr pikanter Geschmack, 
sondern ihre Zuträglichkeit und ihr Nährwert. Man mag wohl zugeben, 
dass der Künstler beim Schaffen seines Kunstwerkes keinen anderen 
Zweck verfolgt als den, zu reizen, ästhetischen Genuss zu bereiten. 
Aber die Kunst muss ausserdem noch einen anderen höheren Zweck, 
gewissermassen einen Nährwert haben, und der Ästhetiker hat nicht 
nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, auch diesen zu ermitteln. 
Wir knüpfen dabei wieder an Tolstoj an. 
Tolstoj definirt die Kunst als ein Mittel, durch welches sich die 
Menschen gegenseitig ihre Gefühle mittheilen. Das Eigenthümliche 
und specifisch Künstlerische dieser Gefühlsmittheilung sieht er darin, 
dass der Künstler sein Publicum ansteckt, ihm seine eigenen Gefühle 
octroyirt. Die Kraft der Ansteckung, mit der ein Kunstwerk wirkt, ist 
für ihn das Entscheidende, das, worauf die Güte eines Kunstwerkes in 
erster Linie beruht. Tolstoj berührt sich hierin eng mit der deutschen 
Illusionsästhetik, die ja auch den Wert eines Kunstwerkes nach der 
Kraft der Illusion bemisst, mit der der Künstler dem Geniessenden eine 
Vorstellung, ein Gefühl zu octroyiren weiss. Das Wesen dieser Illusion
	        
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