Nach dieser Feststellung ist es sehr
leicht, die übrigen Figuren in ihren
geheimen tektonischen Funktionen zu
durchschauen. Die zu Füßen der beiden
weiblichen Figuren sitzenden Evange-
listen Johannes (Abb. n) und Matthäus
(Abb. 5) sind in eine Raute einkompo-
niert. Die Schenkel der Raute sind an-
nähernd bestimmt: durch Rücken-, be-
ziehungsweise Oberarmlinie und Ver-
bindungslinie zwischen Finger- und
äußersten Zehenspitzen einerseits und
durch Schienbein und die vom Kopf
zur äußeren Hand führende Linie ander-
seits. Wenn wir nun die Wirkung dieses
Kompositionsschemas zunächst an der
Figur des Evangelisten Johannes (AbbJI)
beobachten, so stellen wir fest, daß die
zwei Rautenseiten parallel zu Kanzel-
rückwand und Pfeiler verlaufen, so die
Abb. ma. Die Passauer Dornkanzel
Figur der Gruppe der Rückwand angliedernd, während die beiden anderen
Rautenseiten parallel zur Stiegenbrüstung laufen, auf diese Weise die auf-
steigende Linie der Stiege wiederholend, aufnehmend und in das ganze
System der geschlossenen Umrißlinien
überleitend. Der Adler, das Symbol
des Evangelisten, verlängert mit seiner
Schwinge die eine Rautenseite und ver-
stärkt dieserart glücklich die Wirkung.
Die wundervolle Figur des Evangelisten
Matthäus auf der Gegenseite (Abb. 5
und 12) übt wieder ähnliche Funktion,
um die kräftig ausladende Brüstungs-
umrißlinie in den Urnriß der Rückwand-
gruppe und der Schalldeckelkomposition
überzuleiten. Die Anwendung des über-
aus markanten Kontraposts dieser Figur
dient, ähnlich wie bei der Figur der Pro-
videntia des Mehlrnarktbrunnens, der
Wahrung allseitiger Wirkungsmöglich-
keit dieser Figur im besonderen und
der Kanzelkomposition überhaupt. Das
Gewand dient bei allen Figuren vor-
nehmlich zur Verdeutlichung des Be-
wegungsmotivs oder zu seiner Aus-
Abb. 10b. Das Konstruktionsscbema der Passauer
Domkanzel