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erscheinen mochte. Auch dem neuen Uebel war bald abgeholfen und nun
präsentirte sich die Arbeit in wünschenswerther Neutralität. Unbeabsich-
tigte Formenbildungen, wie die eben erwähnten, entstehen häutiger als
man meinen sollte. Alles, was die Hand des Menschen schafft, kann in
vieldeutiger Gestalt entstehen, u. zw. um so leichter, je complicirter das
Gebilde, je ureichert- die Erfindung ist. Von dem plastischen oder gra-
phischen Kunstwerke angefangen bis zu den krausen Formen, die der
abergläubische Bleigießer zu Wege bringt, kommen hier alle unendlich
vielen Zwischenstufen in Betracht. Aber auch Alles, was die Natur hervor-
bringt, Wolken und Wogen, Felsen, Baurnschlag und Gestrüpp - Alles
ist bevölkert von Schemen, von lebenden und von leblosen Gestalten, die
der Phantasie ein weites Feld der Thätigkeit verschaffen; der Phantasie,
die in diesem Falle nichts weiter ist als das Vermögen, die wahrnehm-
baren Gestalten der Außenwelt mit den auftauchenden Erinnerungsbildern
zu vergleichen und diese Erscheinungen auf ihre Congruenz zu prüfen.
Dabei ist die Phantasie gar leicht zufrieden zu stellen, und mancher
moderne Polonius würde seinem Hamlet auch ohne ein serviles Zu-
geständniss bestätigen, dass irgend eine Wolke Aehnlichkeit mit den ver-
schiedensten Thieren habe.
Zu den am meisten angestaunten Scheinbildungen gehören jene, die
ihrem Wesen nach Erzeugnissen ähnlich sind, die ausschließlichvdurch
menschliche Thätigkeit entstehen. Wir hören oft der VerwunderungiAus-
druck verleihen, wenn in einem gegebenen Falle die Natur etwas hervor-
gebracht hat, was man nur der Kunst zutrauen möchte. Es können ganz
einfache Gebilde sein, die zu der Bemerkung nöthigen: hier müssen
Menschenhände geholfen haben, die Natur allein ist doch nicht im Stande,
dergleichen zu schaffen. Solche Bemerkungen hören wir sogar von Jenen,
die von der uns umgebenden, durch die Natur geschalfenen Außenwelt,
als von der einzigen Ernährerin der schöpferischen Kraft des Menschen,
von dem Urquell aller Kunst sprechen. Dies gibt Veranlassung zu einer
besonderen Ueberlegung. Wie, der Mensch soll nur von der Natur lernen,
und dennoch etwas erzeugen, was der Natur nicht zukommt? - Ferner,
was ist es, was ihr nicht zukommen soll und kann? Mit der Bildung der
verschiedenen Individuen und Arten, deren Existenz Selbstzweck ist, und
die sich gegenseitig, sei es durch mörderische Gewalt, sei es durch einen
langsamen, vernichtenden Verdrängungsprocess aus der Gegenwart schaffen,
ist die Thätigkeit der Natur abgeschlossen, es Wäfe den", dass es SiCh
nur um das sinnlose Walten roher Kräfte handeln sollte; Die Kunst
schaßt Formen aller Art, auch solche, die in der Natur kein Vfirbilü
finden; sie schalTt sie außerhalb des thätigen Organismus. Ihr kommt es
zu, den Arbeiten, deren Ursache die. Noth ist, durch Schönheit die-Weihe
des ldeals zu verleihen, ferner aber auch die Schönheitsprincipien, auch
ohne durch äußere Veranlassung genöthigt 111 Sei", zur" GClÜ-"IE 111
Jahrg 1897. 35