Es ist nun nicht nur für die allgemeine Kunde det- Ornamentik
von größter Bedeutung, die Arten und Abarten dieser Coustructionen
kennen zu lernen, ihre genauere Bestimmung ist auch eines der wichtigsten
Hilfsmittel zur_ Kenntniss der Entwicklung der Kunst in den verschiedenen
Stilperioden. Die stetige Wandlung der constructiven Elemente und der
besonderen Art ihrer Verwendung vollzog sich in gar mannigfaltiger,
vielfach auch die einzelnen Kunstepochen scharf charakterisirender Weise.
Eine Geschichte der Entwicklung der Constructionsformen schließt einen
großen und wichtigen Theil der Kunstgeschichte in sich ein. Oft ist
nichts geeigneter, große, sich wesentlich von einander unterscheidende
Perioden der decorativen Kunst schärfer zu charakterisiren, als eine viel-
leicht nur um eine geringe Variante bereicherte, früher in dieser Weise
nicht beniitzte Linienconstruction. V
Ein von mir auch in meiner Lehrpraxis häufig citirtes Beispiel mag
hier angedeutet werden. Dessen Wahl empfiehlt sich durch den Umstand,
dass es auch in den, bisher in unseren Tagen gepflegten eklektischen
Ornamentationsweisen eine augenfällige Rolle spielt; Man erinnere sich
der mannigfaltigen, der Blüthe der Renaissance angehörigen Erzeugnisse
der Verzierungskunst, der Arbeiten in Schmiedeeisen, der textilen Objecte,
der Schnitzereien, der Flachornamente (der graphischen Künste oder auch
anderer Techniken, etwa der lntarsiatur), bei denen, verschieden von
J Ü älterer Gepflogenheit, ein gerade ge-
gfö f IJ-f strecktes Element zwischen zwei krumm-
ä linig verlaufenden intercalirt erscheint:
u. dgl.
Dieses an und für sich geringfügig erscheinende Element, vielfach
schon in den orientalisirenden Zierformen Venedigs, dann Deutschlands
und, offenbar davon abgeleitet, auch sonst in der abendländischen Kunst
des 16. Jahrhunderts verwendet, erwies sich mächtig genug, auch noch
auf die Charakteristik der Barocke intensiv einzuwirken. Untersuchen wir
die Fälle, in denen die gemischt gebrochene Linie die "Seelen vieler
europäischer Ornamentformen ausmacht - nach dem Vorausgeschickten
mag über die hier diesem Ausdruck zugeschriebene Bedeutung wohl kein
Zweifel auftauchen - so finden wir, dass ihre Herrschaft sich erst mit
dem Auftreten des Rococo verringert, um der gekrümmt gebrochenen Linie
' Ü als constructives Element den Vorrang zu lassen.
Qy w Es mag auch erwähnt werden, dass die Kreu--
zungen der Constructionslinien, wo solche vor-
kommen, insbesondere auch wenn sie in eine Symmetrieachse fallen, der
größten Beachtung werth sind, da sie den langsam und stetig sich ent-
wickelnden Gang der Ornamentik mancher langer Perioden in sprechender
Weise aufhellen. _
Die Versuchung liegt nahe, Einzelheiten dieses Gebietes heraus-
zugreifen und näher zu erörtern; doch ist der Umfang eines einzelnen