und sie ist es, die täglich sich von Neuem als trennendes Mittelglied zwischen Kunst
und Leben stellt. Das gesammte übrige Geistesleben unserer Zeit ist frei von Romantik,
es steht unter dem vorwiegenden Einfluss: der Naturwissenschaften. Das durch kein Vor-
urtbeil behinderte Streben nach Wahrheit, das hier zu so großen Erfolgen geführt, hat
auf allen Gebieten mit Ausnahme des Kunstgebietes eine gesunde Abneigung gegen alles
Romantische erzeugt. Dieser Abneigung muss endlich auch die Kunst Rechnung tragen,
will sie nicht den Zusammenhang mit der Gegenwart verlieren. Die Malerei zeigt in
dieser Beziehung ein nicht ganz klares, aber im WVesentlichen wohl richtiges Bestreben.
Sie sucht zur Schönheit vorzudringen ohne die Wahrheit zu verletzen. Damit setzt sie
sich in Einklang mit den allgemeinen Tendenzen der Gegenwart, und die übrigen Künste
werden ihr in diesem Streben, jede in ihrer Art, folgen müssen, wenn sie iene Bedeutung
wieder erlangen wollen, die sie in der Vergangenheit gehabt.
- Am g. Januar d. J. hielt Dr. Eduard Leisching einen Vortrag über nDas
Wesen der künstlerischen Phantasien, welchen er als weitere Entwickelung jener
Ausführungen betrachtet wissen wollte, die er in früheren Vortragen: nUeber Auf-
gabe und Methode einer wissenschaftlichen (d. i. empirischen) Aesthetik- und IPSY"
chologie des Geschmackes: gebracht hat. Von der volksthümlichen Anwendung des
Wortes Phantasie ausgehend, erörterte der Vortragende die geschichtliche Entwickelung
des Begriffes, welche der fortschreitenden Erkenntniss der psychischen Grundlagen und
Eigenthümlichkeiten der Phantasie als Vorstellung und Thatigkeit parallel lauft. Was
man Phantasiebilder nennt, ist wesentlich verschieden von Empfindung, Wahrnehmung,
Gedächtnissbild. Die Empfindung ist die psychische Aeußerung auf irgend einen gegebenen
Reiz, sie ist nichts Anderes als Vorstellung. Die Wahrnehmung hateine Empfindungsvor-
stellung zum Inhalte, zugleich beurtheilt sie dieselbe (oder ihre Ursache) aber "als seiend,
die Wahrnehmung ist also ein Urtheil und gehört in eine andere Classe der psychischen
Phänomene. Auch das Gedachtnissbild, die sogenannte Erinnerungsvorstellung ist keine
Vorstellung im strengen Sinne, sondern ein Urtheil, aber nicht ein Existentialurtheil,
wie die Wahrnehmung, sondern ein Zeiturtheil, denn in ihr tritt eine frühere Em-
pfindungsvorstellung, beziehungsweise Wahrnehmung mit dem Zeichen auf, dass sie
früher einmal auf Grund einer Anregung der Sinnesnerven oder aus anderem unmittel-
baren Anlasse vorgestellt, beziehungsweise vorgestellt und als seiend beurtheilt worden
ist. im Phantasiebilde wird aber weder etwas als seiend noch als gewesen anerkannt;
sondern es wird nur vorgestellt. Schon darin liegt die Berichtigung der vielverbreiteten,
irrthümlichen Ansicht, welche Phantasie und Gedächtniss gleich setzt. Die Erinnerungs-
vorstellungen bewahren aber auch, wenngleich sie schwacher und inhaltsarmer sein
mögen, als die ihnen entsprechende Empfindung oder Wahrnehmung einen bestimmten
Habitus und ihr Auftauchen ist durch die Kraft der Aufmerksamkeit und durch die
Gesetze der Association geregelt. Die Phantasievorstellungen hingegen sind nicht nur oft
so stark oder selbst starker als die Erfahrung der sogenannten Wirklichkeit, es gehört
auch zu ihrem Wesen, dass sie kommen und vergehen, wachsen und sich verandern,
ohne dass wir uns eines Zuthuns oder der Wirksamkeit bestimmter Gesetze bewusst
waren. Hiebei ist an die phantastischen Gesichtserscheinungen, an die Hallucinationen
zu erinnern, anderseits hat man sich darüber klar zu werden, dass nicht nur die Em-
pündung vielfach in die Phantasie hineinspielr, wie beim Traum im Halbschlafe, sondern
dass auch das Umgekehrte stattfindet, die Phantasie in die Empfindung hineingetragen
wird, wie bei der Illusion, deren wir z. B. bei der Betrachtung eines Gemaldes bedürfen,
welches im zweiten dimensionalen Raume darstellt, was auch eine dritte Dimension hat,
die aber kraft unserer Phantasie, auf Grund der Hilfen von Perspective, Licht und
Schatten von uns erst hinzugedacltt, hineinpbantasirt werden muss. Man hat ferner aber
Phantasiebild von Phantasiethatigkeit zu unterscheiden, indem letztere die Anlage, Dispo-
sition bezeichnet, welche der Bildung von Phantasievorstellungen zur Voraussetzung
dient. Man hat zwischen angeborener und erworbener Disposition zu scheiden; die
künstlerische Phantasie ist eine angeborene Disposition zur Bildung von Phantasievor-
stellungen, und zwar von anschaulichen, d. h. solchen, welche den Eindruck des Erleb-
nisses machen. Spricht man aber auch mit Recht von schöpferischer Phantasie? Kann
die Phantasie überhaupt schöpferisch sein, d. h. Neues, Nichterlebtes schaffen, welches
den Eindruck des Erlebnisses macht? Der Vortragende meinte, dass dies so sehr der
Fall ist, dass die Phantasie gar nicht anders kann als Neues schaffen, welches so nie
erlebt worden ist. Es gehört zu ihrem eigensten Wesen: ihre Stimmungen und Bilder in
die Empfindung hineinzutragen, Naturformen in Kunstformen zu verwandeln, an alle
Erfahrung psychische Associationen zu knüpfen, Geistiges zu vermenschlichen, die Natur
zu durchgeistigen, Allgemeines zu individualisiren und aus Einzelnen die Gesetze des
Ganzen wirksam zu zeigen. Ist dies aus der Analyse der künstlerischen Individualität zu
erweisen und durch mannigfache Selbstzeugnisse von Künstlern, die ihr Schaffen beob-
achteten, zu belegen, so bleibt noch die Frage, ob die Phantasie sogar im Stande ist,
elementare Vorstellungen zu bilden, die nie erfahren worden. ln Hinsicht der frei-