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geschrittenen Technik nach Stilgrundsätzen zu behandeln sei; den dritten,
welcher die ausser dem Kunstwerke liegenden örtlichen, zeitlichen und
persönlichen Einflüsse auf Gestaltung desselben besprechen, und seine
Uebereinstimmung mit Anderem, die Charakteristik, den Ausdruck um-
fassen sollte.
Bei diesem dritten Punkte erörtert er in der geistvollsten Weise den
Einlluss des Arbeiters für den Markt, nicht für eine bestimmte Person
oder einen bestimmten Ort, und weist zugleich den Leistungen der asia-
tischen und anderer wenig civilisirter Völkerschaften den gebührenden
Platz an. Bekanntlich war auf der ersten Londoner Ausstellung noch wenig
von orientalischer Kunst zu sehen. Japan fehlte gänzlich, China war schwach
und auch die Türkei nicht vollständig vertreten; dagegen hatte England
für reichliche Betheiligung seiner asiatischen und amerikanischen Besitzungen
Sorge getragen, und die indischen und die indianischen Arbeiten waren
es vornehmlich, welche denkende Beschauer zu Vergleichen mit der euro-
päischen Kunstindustrie aufforderten, und zu dem beschämenden Geständ-
nisse nöthigten, dass jene halbbarbarischen Völker uns weit voraus seien.
Auch Semper erkennt deren Ueberlegenheit im Stil entschieden an, hebt
jedoch bereits hervor, dass die orientalischen Erzeugnisse, wie sie den
Bedingungen vollständig entsprechen, welche an die Marktwaare gestellt
werden müssen, wie sie in alle Umgebungen passen, sich zu den ver-
schiedensten Zwecken verwenden lassen, dafür des individuellen Ausdrucks,
der Sprache, der Seele ermangeln. Und indem er voraussagt, dass der
Einfluss der orientalischen Waaren sich als eine der ersten Wirkungen
der Londoner Industrie-Ausstellung an den europäischen kunstgewerb-
lichen Producten zeigen werde, warnt er zugleich vor der blinden Nach-
ahmung. wWir besitzen einen Reichthum von Wissenu, sagt er, weine nie
übertroifene Virtuosität im Technischen, eine Fülle von Kunsttraditionen
und allgemeinverständlichen Bildern, eine wahre Naturanschauung, und
dürfen wahrlich dies alles nicht für halbbarbarische Weisen hingeben.
Was wir den Völkern von nicht europäischer Bildung absehen müssen,
ist die Kunst des Treffens jener einfachen verständlichen Melodien in
Formen und in Farbentönen, die der lnstinct den Menschenwerken in
ihren einfachsten Gestaltungen zutheilt, die aber bei reicheren Mitteln
immer schwerer zu erfassen und festzuhalten sindm Das Studium der-
selben empfiehlt er wie das Studium der Naturformen, deren unmittelbare
Nachahmung, welche damals sehr im Schwunge war, er selbstverständlich
ebenso verwirft. Es ist betrübend, uns sagen zu müssen, dass trotz allem,
was seitdem geschehen, gelehrt, erstrebt, gearbeitet worden ist, jene Worte
noch heute wie vor beinahe dreissig Jahren am Platze sind: der Natura-
lismus zwar ist so ziemlich zurückgedrängt, dagegen florirt gerade in
einigen tonangebenden Ländern das gedankenlose Nachälfen orientalischer
Besonderheiten, und das von Semper geforderte Studium der Natur behufs
der selbstständigen künstlerischen Reproduction ihrer Formen gehört überall