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demnach bei so gearteten Bestrebungen von nationaler Toleranz keine
Rede sein. Am unbefangensten und duldsamsten sprechen sich die Ver-
treter der ruthenischen Hausindustrie aus. Sie sind am wenigsten aggressiv,
sowohl gegenüber den Polen als den in Galizien wohnenden Deutschen
und deutschen Bürgern. Die galizischen Ruthenen ') sind bekanntermaßen
starnmverwandt mit den Russen und sind desselben Stammes mit den in
Ungarn lebenden Ruthenen.
In der ruthenischen Hausindustrie haben sich eine Menge von Ele-
menten erhalten. die vom Orient herüber-gekommen sind; die ruthenische
Hausindustrie ist wesentlich die Industrie eines Gebirgsvolkes. ln der
Ebene verseichtet sich in der Regel das künstlerische Element der Haus-
industrie, und beschränkt sich zumeist auf die Bedürfnisse der Ackerbau
treibenden Bevölkerung.
Die Hausindustrie Ungarns kann man nicht als eine in sich ge-
schlossene ansehen, wie dies bei der ruthenischen der Fall ist. Es ist
daher auch der Titel des angeführten ungarischen Werkes nicht richtig,
welcher vielmehr lauten sollte: "Die Ornamente der Hausindustrie der
Völker in den Ländern der ungarischen Kronen. Denn die Hausindustrie
Ungarns ist polyglott und wesentlich eine slavische. Die in Ungarn
lebenden Ruthenen, Serben und Rumänen haben eine ganz selbstständige
Hausindustrie, mit der die magyarische sich kaum messen kann. Auch
die Hausindustrie in Siebenbürgen hat theils einen rumänischen, theils
einen deutsch-sächsischen Charakter. Nur das, was in Siebenbürgen die
Szekler auf dem Gebiete der Hausindustrie leisten, kann als magyarisch
bezeichnet werden. Die Hausindustrie lässt sich überhaupt nicht ent-
nationalisiren; versucht man es dennoch, so stirbt sie ab. In Ländern,
deren Bewohner verschiedene künstlerische Begabung haben, wird der
Sieg in der Hausindustrie jenen Elementen zufallen, welche eine höhere
Culturstufe erreicht haben. Das hat Professor Kränjavi in seinem Vortrag
über südslavische Hausindustrie mit ganz positiven Daten bewiesen. Unter
den Slaven der Balkanhalbinsel ist die Hausindustrie der Bulgaren die
bedeutendstes). Was die Serben und die ihnen stammverwandten Bosniaken
') Ueber Umfang und Bedeutung der ruthenischen Culturbewegung gibt ausführ-
lich Nachricht die vortreüliche nGeschichte der slavischen Literatur- von Pypin und
Spaso vie, Bd. l, Seite 529-596 (Leipzig, Brockhaus). .
s) Da gegenwärtig die Bewegung der Cullurfrugen bei den slavischen Völkern
eine so große Rolle spielt, so muss man sich bei der Erörterung solcher Fragen nn die
Aussprüche von Autoritäten halten, die nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten arbeiten,
wie es bei den Verfassern des vorhin erwähnten Werkes über slaviscbe Literatur der
Fall ist, oder wie bei jenem Werke, das von Prof. Constantin Jireczek, dem gegen-
wärtigen Leiter der Unterrichtsverwaltung von Bulgarien, herausgegeben wurde. Dass
die Bulgaren als ein Kunstvolk unter den Balkanslaven zu betrachten sind, ist eine natür-
liche Folge ihrer historischen Entwickelung und ihrer alten Verbindung mit dem byzan-
tinischen Reiche. Haben doch die Bulgaren schon während der Zeit der byzantinischen
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