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Ueber den Einfluss des christlichen Reliquiencultes
auf die bildenden Künste.
Von Prof. Dr. W. A. Neumann.
(Fortsetzung)
Nach römischem Brauche sendet der heil. Papst Gregor an die
Kaiserin Constantina keine Bestandtheile vom Skelette des heil. Paulus,
sondern Stücke von den Ketten desselben, und an die Königin der Longo-
barden, Theodolinda, ein Kreuz mit einem Splitter vom heil. Kreuzholze.
Das Kreuz ist noch im Schatze von Monza "). Er sendet nach Gallien
goldene Schlüssel, in denen Eisenfeilspäne von den Ketten des heil. Petrus
sich befinden und mit denen die Grabcapelle des Heiligen war geöHnet
worden. - In die Reihe dieser Reliquiare gehört auch die eiserne
Krone, die den Nagel vom Kreuze Christi einschließt.
Unter solchen Umständen ist der Einfluss des Reliquiencultes auf
die Künste gering. Was etwa demnach von Reliquiaren nach Italien kam,
stammte aus Constantinopel, der eigentlichen Wohnstätte des Reliquien-
cultes im fortgeschrittenen Sinne, dem großen Emporium für die Re-
liquien, der Heimat der Goldschmiede, die für Herstellung der Reliquiare
so lange alle Hände voll Arbeit hatten, als der Occident nicht im Stande
war, selbst in würdiger Weise die Reliquien zu fassen. Da blühten alle
Branchen des Kunstgewerbes und werden alle Techniken des Gold-
schmiedes, das Filigran, das Niello, das Email, das Steinschleifen und
-Fassen, das Elfenbeinschneiden, die Miniaturmalerei reichlich geübt.
Italien, Gallien, Spanien sind während der Völkerwanderungen den
fortwährenden Einfällen der Barbaren deutscher, normännischer, arabischer
Abkunft ausgesetzt, da kann die antike Kunst nur sinken, eine neue nicht
aufkommen. Eine kurze Zeit des Aufschwunges brachte für Italien die
Zeit der Longobardenkönigin Theodolinde und der Ikonoklastenstreit, der
seit 726 Constantinopel verödete, und nach Italien eine Reihe bisher nicht
gekannter Techniken brachte: das Email, das Niello, durch welches
Toscana berühmt wurde, jene Agemina, wohl persische Technik, die am
Tassilokelch und seinen Verwandten zu Tage tritt. Manches Stück aus
dem Schatze von Monza, etwa das Berengarkreuz oder ein und das andere
Reliquienkästchen dürfte dieser Zeit entstammen. Damals wurde der Occi-
dent befruchtet durch neue künstlerische Kraft, Byzanz hat sich durch
den lkonoklastenstreit tief geschädigt; denn selbst nach dessen Aufhören
konnte die höhere statuarische Plastik nicht mehr aufkommen, jenes
') Publ. bei Frisi, Mern. di Monza, I, 32, Tav. VII; Garrucci Vl (Tav. 433),
Christus steh: ruhig auf einem grossen viereckigen Schemel, angethnn mit einer Tunicn
vom Halse bis zu den FDBen, die Arme horizontal auf dem Kreuze ausgespannt. Ober
ihm die Schriftlafel ICX und ganz ohen Sonne und Mond. Links und rechts vom Quer-
balken ganz klein steht Maria und Johannes und darunter IAE O YC COY und IAOY
HMP COY