örtern, in welchem Verhältnisse Schönheit und Naturwahrheit zu einander
stehen, bis zu welchen Grenzen die letztere gehen darf, um gegen erstere
nicht zu verstossen.
Wer bei Betrachtung belebter Wesen sich die Frage vorgelegt hat,
worin wohl das Hauptmerkmal, der eigenartige Reiz des Lebens liege, der
wird sich sagen müssen, dass es allein die Bewegung - nicht Ortsbewe-
gung- Bewegung im weitesten Sinne des Worts ist. An jedem belebten
Geschöpfe, auch wenn es scheinbar in vollkommener Ruhe sich befindet,
spielt sich fortwährend eine Reihe von Bewegungserscheinungen ab, die,
so lange der Körper lebt, nicht unterbrochen wird.
Es ist nun Sgche des Künstlers, diese unendlich vielfältigen äusseren
Merkmale des Lebens aufzufassen und verstehen zu lernen. Naturgemäss
ist der Künstler an die Beobachtung des Lebens selbst gewiesen. Ein
genaues Eingehen auf die Lebenserscheinungen führt ihn übrigens auf den
nothwendigen Zusammenhang zwischen Wirkung und Ursache -- und soll
ein Verständniss des Beobachteten ihm klar werden, so sucht er dem
vwarumu auf die Spur zu kommen, er forscht nach den veranlassenden
Momenten.
Wenn eine feine Naturbeobachtung schon dem Blumen- und Land-
schaftsmaler nothwendiges Bedürfniss ist, so wird sie für den Thiermaler
zu einem gründlichen und umfangreichen Studium. Seine Aufgabe, belebte
mit freier Bewegung begabte Wesen darzustellen, ist eine viel schwierigere '
- denn es ist stets nur ein einziger Augenblick der immer veränderlichen
Natur, den er uns vorführen kann. Viele Bedingungen wirken zusammen,
die bedeutendste Aufgabe der Kunst, die Darstellung des menschlichen ,
Körpers in diesem Sinne auch zur schwierigsten zu machen. Es liegt dies
theils in uns, theils ausser uns; in uns, insoferne wir an die Darstellung
des schönsten und vollkommensten aller Geschöpfe auch die höchsten An-
forderungen in Bezug auf Schönheit und Naturwahrheit stellen, ausser
uns, insoferne an dem menschlichen Körper unendlich viel mehr äussere
Momente, Erscheinungen des Lebens, die der Künster auffassen, verstehen
und bilden lernen soll, sich darbieten, als bei irgend einem andern orga-
nischen Wesen.
Ich will versuchen, Ihnen in der heutigen Vorlesung auseinanderzu-
setzen, wie der Künstler auf Grundlage anatomischer Kenntnisse, geleitet
von einem richtigen Verständnisse der Erscheinungen des Lebens, zu einer
vollendeten Darstellung der menschlichen Gestalt geführt werden soll.
Zu diesem Zwecke müssen wir uns vorerst klar machen, welchen
Standpunkt der Künstler in Bezug auf die Anatomie einnehmen soll. Um
diesen Standpunkt gleich von einer concreten Seite betrachten zu können,
bitte ich Sie, mir zunächst bei einigen rein anatomischen Auseinander-
setzungen, die Ihnen die Bedeutung der anatomischen Details für das Ver-
ständniss der äusseren Form erläutern sollen, Ihre Aufmerksamkeit zu
schenken.