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ist es richtig, dass J. J. Rousseau in seinem vEmiln von einem idealen
Naturzustand ausgeht, der sich direct gegen den damaligen Staat wendet,
und der weder jemals wirklich vorhanden war, noch in irgend einer Zeit
durchführbar sein wird. Aber den Vorzug hat Rousseau, dass er in der
Erkenntnis der Verschiedenheit der Stände aufgewachsen, die Bedeutung
des Handwerkerstandes vollkommen gewürdigt hat. Nachdem er also
meint, vdass von allen Beschäftigungen, welche den Menschen einen Unter-
halt verschaffen, der Handwerkerstand derjenige ist, der am meisten dem
Naturzustand sich nähert, so kann unter allen Umständen der Handwerker
auch als derjenige bezeichnet werden, der von einem Glückswechsel am
unabhängigsten ist, denn der Handwerker hängt lediglich von seiner
Arbeit abu. Diese Auffassung vom Werthe des Handwerkes führt ihn
zu der Ansicht, dass man ein Handwerk nicht blos wegen der praktischen
Uebung lernen soll, sondern man muss, sagt er, dahin streben, die Vor-
urtheile zu besiegen, nach welchen man das Handwerk mit Geringschätzung
behandelt. Es folgt daraus, dass sein Emil schon in der Jugend ein Hand-
werk lernen muss. Es ist dies dasselbe, was wir wünschen, dass es in
der Volksschule eingeführt würde, denn das Handwerk muss von der
Volksschule ausgehen. Die gebildete Gesellschaft der damaligen Zeit hat
diesen Grundsatz aufgenommen und in allen vornehmen Häusern hat man
bei der Erziehung des männlichen Geschlechtes darauf Gewicht gelegt,
dass der Junge ein Handwerk erlernte, und wenn wir die Biographien
hervorragender Männer aus der vornehmen Gesellschaft lesen, so finden
wir häufig, dass sie in ihrer Jugend den Rousseau'schen Grundsätzen
entsprechend erzogen worden sind und ein Handwerk gelernt haben. So
kam es, dass es im verflossenen Jahrhundert am kaiserlichen Hofe in Wien
Mode wurde, dass die Prinzen irgend ein Handwerk gelernt haben. Heute
ist das freilich anders geworden. Die Söhne der heutigen Aristokratie
werden selten angewiesen, sich geistig ernsthaft zu beschäftigen, geschweige
denn ein Handwerk zu erlernen. Das Clubwesen, der Sport und der
Umgang mit dem Weibe bilden, in sehr jungen Jahren schon, heute bei
einem Theil unserer aristokratischen Jugend den standesgemäßen Zeitver-
treib. Die Pflege eines Handwerkes im aristokratischen Hause ist außer
Uebung gekommen. Und doch weist die Zeit darauf hin, die vornehme
Jugend zur Selbstverwaltung ihres Besitzes, sei dieser ein Land- oder
Fabriksbesitz, und zu werkthätiger Arbeit zu erziehen.
Dazu kommt eine Schulgesetzgebung, welche für die Anforderungen
des gewerblichen Unterrichtes wenig Verständniss hat.
Nach vollendetem 14. Lebensjahre lernt kein Junge ein Handwerk
mehr, es müsste denn sein, dass er schon in der Schule sich eine Hands
werksfertigkeit angeeignet hat. Im verflossenen Jahrhundert waren die
Principien der tonangebenden Pädagogen Rousseau und Pestalozzi viel
gesündere, als die Anschauungen unserer maßgebenden Schulmänner. Die
politischen Gesichtspunkte beherrschen unsere Staatspädagogen so sehr,