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Volltext: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe XIX (1884 / 230)

 
Kunst Michel AngeloXs, einen Ausdruck der persönlichen Eigenart Lysipps erkennen zu 
dürfen glaubt. 
Indessen muss auch dem gegenüber die eingangs erhobene Forderung, von der Indi- 
vidualität des Künstlers abzusehen, betont werden, da die Ueberlieferung eine gesicherte 
Abgrenzung zwischen den Persönlichkeiten der Künstler nicht gestattet. So lässt sich 
auch für Skopas, dessen geistige Art sich aus der Ueberlieferung in bestimmten Zügen 
darstellt, keine endgiltig gesicherte Zutheilung von Werken vornehmen. Demgemäß liegt 
es nahe, die jeweilig in der Kunst dargestellten Actionen und Bewegungen des mensch- 
lichen Körpers, welche die Ausdrucksmittel des Künstlers sind, an sich, als Erschei- 
nungen, nach dem Gesichtspunkte in's Auge zu fassen, ob sich nicht in ihnen eine Stufe 
der kunstgeschichtlichen Entwickelung ausspricht, wobei die Bezeichnung von Werken 
mit dem Namen des Künstlers nur zur Ersichtlichmachung ihrer anderweitig erkannten 
ltunstgeschichtlichen Stellung dienen soll. 
Die Berechtigung für eine solche Betrachtung ergibt sich aus der Thatsache, dass 
die Künstler in ihrem Schaffen in der Regel gebunden sind. Ihr Können umfasst zunächst 
nur jenen Vorrath von Bewegungen, welche darzustellen ihnen selbst oder der Kunst 
bis zu ihnen gelungen ist, und ebenso sind ihre Ideen und Absichten durch die ihnen 
vorliegende Tradition beherrscht. Eine Erweiterung dieses Vorrathes, welcher von der 
unendlichen Mannigfaltigkeit der Bewegungen des menschlichen Körpers naturgemäß nur 
einen Theil umfassen kann, ist durch Naturbeobachtung möglich, wird aber, da directes 
Modellstudium, wenigstens für die Periode der aufsteigenden Entwickelung in der antiken 
Kunst nicht vorausgesetzt werden kann, in der ganz freien Rundplastik nur sehr langsam 
vor sich gegangen sein. 
Es ist nun begreiflich, dass sich die Kunst zunächst nur des einfachsten Falles 
bedient. Dieser einfache Fall beeinflusst aber die folgende Entwickelung, indem man auf 
ihn die complicirteren Erscheinungen zurückführt, dieselben aus ihm ableitet. Das Bei- 
spiel der Malerei, welche den ihr von Anfang an natürlichen Profilstyl die langste Zeit 
beibehält und die Erscheinungen der Profilansicht auch auf die cumplicirteren Bewegungen 
überträgt, macht dies klar. Der einfachste Fall" der Bewegung ist aber die ruhige Hal- 
tung, also die völlige Bewegungslosigkeit. Zunachst lernt sodann die Kunst die Bewegung 
des Kopfes und der Extremitäten, dagegen beherrscht sie lange Zeit, wie der Vortragende 
an einer Anzahl von Beispielen bis in die Zeit nach Phidias zeigt, die Bewegungen des 
Rumpfes nicht. Die Bewegung des Rumpfes lasst sich auch noch an der Nilte des 
Paionios durch eine [senkrechte Axe kennzeichnen, welche die Verbindungslinien von 
Schultern, Brust und Hüften wagrecht, also in einem rechten Winkel, durchschneiden. 
Da die Erscheinungen eines bewegten Torso am schwersten zu fassen sind und 
in jedem Falle eine besondere Kenntniss ihrer Farmen erfordern, das Uebertragen aus 
dem einfachsten Falle hier also seine Grenzen findet, so begreift sich diese langsame 
Entwickelung. Zugleich ergibt sich daraus ein Prüfatein für die kunstgeschichtliche Stufe 
eines Werkes. Nun tritt aber ein Zwang zu der Bewegung des Rumpfes für den Künstler 
dadurch ein, dass die meisten Bewegungen, u. zw. zum größten Theile aus anatomischen 
Gründen, ihren Einfluss auch auf den Rumpf geltend machen, indem sie eine Bewegung 
desselben zur nothwendigen Folge haben. Daran knüpfte der Redner an, um zu zeigen, 
dass auch Polyklet nur die nothwendigsten Consequenzen seines Standbeinprincipcs 
gezogen hat, dass aber auch bei ihm für die Bewegung des Rumpfes noch eine Axe 
kennzeichnend ist. Praxiteles, dessen gewöhnliches Motiv nur eine Weiterführung des 
polykletischen Schema's ist, wird_ allen Consequenzen desselben gerecht; die die Be- 
wegung des Rumpfes verdeutlichende Linie ist bei seinen Gestalten eine gekrümmte, die 
Verbindungslinien von Schultern, Brust und Hüften convergiren. Aber noch spielt sich 
die Bewegung in einer Ebene ab, während die volle Freiheit bei Lysipp gewonnen ist, 
dessen Bewegungen auch in den Raum hinein gehen. Diese Freiheit, welche von früheren 
Künstlern in isolirter Weise Myron besitzt, zeigt sich in der Lysipp folgenden Kunst, 
und sie steigert sich in den Schöpfungen der früh-hellenistischen Kunst bis zu Bildungen, 
wie den sich um sich drehenden Satyrn, dem zur Schindung gebundenen Marsyas, der 
kauernden Venus, dem Schleifer, den Kriegern der pergamenischen Weihgeschenke und den 
beiden verwandten Gruppen des Pasquino und des Galliers mit seinem Weibe. Die in 
diesen beiden gebildeten Leichname mit ihrem auf absolutem Energicmangel beruhenden 
Maximum der Beweglichkeit bezeichnen das Extrem der Entwickelung gegenüber der 
angespannten Energie, welche sich in der Bewegungslosigkeit der Körper in der alten 
Kunst ausspricht. In der Richtung dieser ganzen hellenistischen Kunst äußert sich ein 
moderner Art verwandter Zug, der sich auch daran erkennen lasst, dass die Bewegungen 
über den nuthivendigen Ausdruck der Idee hinausgehen, vielmehr das Motiv selbst 
es ist, welches den Künstler in erster Linie reizt. 

	        
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