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fullscreen: Monatsschrift für Kunst und Gewerbe X (1895 / 5)

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hat, derselbe Winckelmann ist es zugleich gewesen, der damit die lebende 
Kunst selbst in jenen dürren, unfruchtbaren Kreis hineingeführt hat, aus 
dem sie bis jetzt im großen Ganzen noch immer nicht herauszufinden 
vermochte. 
Untersuchen wir, wie sich der bezügliche Process abgespielt hat, 
ja wie er sich naturnothwendig vollziehen musste. Von dem Augenblicke 
an, da die Kunst sich die altgriechische Antike zum Vorbild erkor, halte 
sie sich auf Gnade und Ungnade der Kunstgeschichte ausgeliefert. Wer 
kannte denn überhaupt die altgriechische Kunst? Der großen Masse des 
Volkes waren ihre Denkmäler fremd: nicht blos die Tempel im fernen 
Griechenland, sondern auch die Sculpturen in den heimischen fürstlichen 
Privatsammlungen. Gekannt waren sie nur von den Gelehrten, die sich, 
wie Winckelmann, ihrem Studium speciell widmeten. Der Künstler war 
daher gezwungen, sich an den Kunstgelehrten, den Kunsthistoriker zu 
wenden, wenn er über ein altgriechisches Werk näheren Aufschluss er- 
halten wollte. Der Künstler Ider italienischen Renaissance des 15. Jahr- 
hunderts durfte ein antikes Denkmal der Römerzeit, wie er dergleichen 
für sein Schaffen verwerthete, mit völlig unbefangenen, naiven Augen 
betrachten, als wäre es ein Kunstwerk seiner eigenen Zeit. Der Künstler 
vom Ende des iSJahrhunderts stand den altgriechischen Kunstwerken fremd 
und scheu gegenüber; er empfand Ehrfurcht vor ihnen und suchte sich 
mit dem hohen Geiste ihrer einfach-edlen Formen zu erfüllen, aber er 
empfand". es waren Werke, die unter ganz anderen Bedingungen geschaEen 
wurden, als diejenigen waren, unter denen er selber schuf. Er merkte, 
dass er mit der rein künstlerischen Betrachtung nicht ausreichte, um die 
tiefere Bedeutung des Kunstwerks zu erfassen: was blieb ihm übrig, als 
zum Kunstgelehrten, zum Archäologen zu gehen, der den Homer, den 
Ptolemäus, den Seneca kannte, und der daher allein im Stande war, den 
gewünschten Aufschluss zu geben? 
Umgekehrt hat aber die Kunstgeschichte diesen in der Natur der 
Sache begründeten Vortheil auch sofort und Weidlich für sich ausgenützt. 
Schon Winckelmann hat sich wiederholt herausgenommen, den Künstlern 
Vorschriften zu geben. Und welcher Art diese Vorschriften waren, lässt 
sich denken: war die altgriechische Antike einmal zum würdigen Vorbild 
erkiest, dann hatten die Künstler nichts Besseres zu thun, als diese Art 
der Antike auf das peinlich Genaueste nachzubilden. Wo sie sich eine 
Freiheit gestatteten, da erfuhren sie vom Archäologen, der ja die Vor- 
bilder besser kannte, sofort eine Zurechtweisung. Nun sah man Kunst- 
werke entstehen, die in der ganzen italienischen Renaissance undenkbar 
gewesen wären. Es wurde schon vorhin als im höchsten Grade bezeichnend 
für die Selbständigkeit betont, mit welcher die italienische Renaissance 
den antiken Vorbildern gegenüber verfahren ist, dass sie niemals, auch 
nicht ein einziges Mal, einen antiken Tempel genau copirt hat. Nun 
aber, in der modernen Zeit, ist dies wiederholt geschehen.
	        
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