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E. BONNENCONTRE UND SEINE KUNST 51b
VON GRAF VON SOISSONS S0
IE Kunst ist der getreueste, unmittelbarste Ausdruck
der Seele; aber die Seele umfasst eine so
gigantische Welt der Erscheinungen, ein so
unergründliches Meer von Mysterien, ein solches
Wirrsal unermesslicher und zuweilen sich
widersprechender Lebensäusserungen, ein
solches Gemisch rauher und subtiler Empfin-
dungen, Zustände, Gemütsbewegungen und
Ideen, dass der artistische Kritizismus ausser-
stande ist, zwischen einem Kunstwerk und der
Seele seines Schöpfers eine reale Verbindung
zu entdecken. Solches ist die Aufgabe der Kunsttheorie; und immer wieder
scheitern die gelehrten Systeme der Ästhetik ebenso wie die zeitweise aus-
gegebenen Parolen, wodurch die knappen Tendenzen gewisser Kunst-
richtungen zum Ausdruck gebracht werden. Nichts bleibt übrig von der
schulmässigen Spekulation und dem Meere von Phrasen. Die Kunst schafft
und erzeugt in der Richtung, in die sie durch den Flug individueller Talente
gezogen wird, und kümmert sich nicht um Formeln, durch die sich eine starke
Individualität weder binden noch niederdrücken lässt. Beziehungen und
wechselseitige Abhängigkeit gerade einiger wesentlichen und einfachen
Äusserungen des Seelenlebens, wie Empfindungen, Einbildung, Gefühl,
Denken, bringen eine solche Verwicklung der Erscheinungen hervor, dass,
um solche zum Ausdruck zu bringen, alle Arten der verschiedenen Kunst-
zweige erforderlich sind. Aber die elementaren psychischen Erscheinungen
weisen so manche Schattierung auf, so manche Abweichung, unter dem
Einfiusse der unendlich variierenden Einwirkung des äusseren Lichtes, unter
demEinfiusse des pathologischen Zustandes desKünstlers, unter dem Einflusse
des chaotischen Gesamtlebens der Menschheit, dass es unmöglich ist, sie durch
das zu erklären, was man als den Normalmasstab des menschlichen Tuns
betrachtet. Daher die Schwierigkeit, ja die Absurdität des Kritizismus, der
sich der Kunst nicht nähert, wie etwa ein gewissenhafter Schüler einem ihm
noch unbekannten Phänomen, sondern als Richter, der die Paragraphen eines
Gesetzbuches auf die Werke der Kunst anwendet - Werke, die oftmals
den Anstrengungen einer bebenden Seele entspringen, die das uneinge-
schränkte Bestreben hat, sich ganz und gar zu offenbaren, und die sich aus
diesem Grunde mit dem zeitgenössischen Leben im Widerstreit befinden,
ebenso sehr wie mit den moralischen und materiellen Existenzbedingungen
der Massen.
Daher kann auf ein Kunstwerk weder die verwickelte spekulative
Ästhetik angewendet werden, - die mit einem Gebäude mit vielen, den
einzelnen Kunstweisen entsprechenden Flügeln zu vergleichen ist, gestützt
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