geförderten Wanderausstellung in Europa und in den USA ge-
zeigt. Ähnlich liegen die Dinge heuer. Die Biennale zeigt drei
Retrospektiven: Delacroix, Juan Gris und Mondrian. Von
Delacroix wurden 76 Werke zusammengestellt, wobei auffiel,
daß der Akzent der Auswahl mehr auf den Historienmalcr als
auf den revolutionären Romantiker gesetzt wurde. Unter den
dreißig Zeichnungen vermißte man die expressiven Skizzen, un-
ter den Olbildern überwogen jene Werke, die den Künstler als
einen „peintre official" zeigen, so die Entwürfe für Plafond- und
Wandmalereien, darunter auch der Kampf Jakobs mit dem Engel
aus dem Wiener Kunsthistorischen"Museum. Der geniale Land-
schafter, der von den Engländern eine neue Art des Sehens
empfing, ging dabei leer aus, er wurde nur durch ganz wenige
Beispiele dokumentiert.
Mondrian und Gris mußten sich mit je einem Saal begnügen. Der
Eindruck, den der Besucher vom Lebenswerk dieser beiden
Künstler empfing, wurde von der Erinnerung an die große
Mondrian-Ausstellung (Den Haag, 1955) und an die herrliche
Gris-Schau des Berner Kunstmuscums (1955) überlagert. Wohl
war die von Sandberg getroffene Auswahl der Mondrian-Bilder
höchst instruktiv und außerordentlich wirkungsvoll dargeboten,
doch reichte sie nicht aus, um dem großen holländischen Meister
der absoluten Malerei jenes Gewicht zu geben, dessen der Be-
sucher inmitten der verwirrenden Fülle der Ismen oft bedurft
hätte. Auch Gris ist eine jener Persönlichkeiten unseres Jahrhun-
derts, deren Erlebnis einem die Dinge wieder ins Lot bringt.
Beide Maler besitzen eine Gcgenwartsaktualität, die noch lange
nicht ausgeschöpft ist und die auch von der Bicnnale nur ange-
deutet wurde. Bei künftigen Planungen müßte jedenfalls dafür
Sorge getragen werden, datS sich Venedig die Premiere zu sichern
weiß. Es geht nicht an, daß die Biennale ihre Retrospektiven aus
den Restbeständen großer Gedächtnisausstellungen zusammen-
liest.
Wie steht es nun um den vielfältigen Anteil der unmittelbaren
Gegenwart? Wie liegen die einzelnen Nationen „im Rennen"
und in welche Richtung tendieren deren wichtigste Vertreter?
Diese Frage ist schwer zu beantworten. Ob die Biennale der Ort
eines echten Rcchenschaftsberichtes ist, scheint fraglich. Ob ein
solcher überhaupt zu erbringen ist, wohl noch mehr. Und das
ist vielleicht gut so, denn viel bedenklicher schiene mir die Si-
tuation, sobald es einmal gelänge, im eben erst entpuppten
Jüngling bereits das Genie der kommenden Jahrzehnte zu
proklamieren und . nachzuweisen. Zum Glück tappen wir
immer im Dunkeln, sogar dann, wenn es der Publicity gelingt,
ein paar Leute in den Lichtkegel eines Augenblickserfolges zu
locken.
Der internationale Preis für Malerei ging an den Franzosen Jac-
ques Villon, dessen Lebenswerk den l-lauptsaal des französischen
Pavillons füllt. Braque, Matisse, Dufy haben den Preis in frü-
heren Jahren erhalten, - Leger hätte ihn verdient, doch kam
sein Tod dazwischen. Villon fehlt zum großen Meister eben
jenes Quantum Genie, das einen Gavarni von Daumier oder -
auf einer anderen Ebene - einen Holbcin von Dürer trennt. Man
könnte den Vergleich weiterführen und sagen, daß er durch
seine konziliante Auffassung der Formprobleme des Kubismus,
bei gleichzeitiger Wahrung der rationalen Basis und eines ex-
quisiten Kolorismus, diesen zu einer geläufigen Kunstsprache
gemacht hat, ähnlich wie Gavarni es verstand, die graphische
Genialität Daumiers in die Breite zu tragen. Es ist auch be-
zeichnend, daß Villon sich eine Zeitlang mit Reproduktionssti-
chen nach Cezanne, Picasso und Braque sein Brot verdient hat.
Seit 194-5 ist sein Name, kunsthändlerisch geschickt lanciert,
allmählich immer mehr ins Gespräch gekommen und die Ehrung
seines Lebcnswerkes in Venedig trifft eine Persönlichkeit, die
als Mensch und als Maler ein charfaktervolles, noblcs Künstler-
tum verkörpert.
Der internationale Preis für Plastik ging an den Engländer Lynn
Chadwiek. Allgemein hatte man den Schweizer Giacomctti als
Abb. 2 Lynn Chndwlelt: Plullk (195?)
den liavoriten betrachtet, doch machte sich in der Jury eine
Tendenz bemerkbar, die vielleicht bei kommenden Biennalen
noch deutlicher hervortreten wird: Chadwick ist erst Zweiund-
vierzig Jahre alt; mit ihm wurde nicht nur ein Künstler geehrt,
sondern eine Persönlichkeit entdeckt, die bislang außerhalb
Englands kaum einen Namen besaß. Man entschloß sich also,
auf die jüngere Generation überzugehen und es ist anzunehmen,
daß diese Tendenz, sollte sie Schule machen, den moralischen
Wert der Biennale-Preise allmählich erhöhen wird. Chadwick
ist ein typischer Repräsentant der modernen englischen Eisen-
und Drahtplastik, doch geht er über Butler und Armitage durch
eine Materialkombination hinaus, deren Erfindung er für sich
in Anspruch nehmen darf und deren Ausdrucksmöglichkeiten
überaus reichhaltig sind. Der plastische Körper besteht aus
einem Rahmenwerk aus Draht oder Eisen, welches mit einem
Zementguß versehen wird, dessen Oberflächenstruktur entschei-
dend am Gesamtcharakter der Gebilde mit spricht. Riesigein
lilcdermäusen scheinen diese Gestalten zu gleichen, in denen
das Spitze und Schnabelige, das Krallige und Dornige den Form-
charakter bestimmt. Dort, wo der Künstler das „Gebilde" (man
sollte hier nicht mehr von „Skulptur" sprechen) nach innen
öffnet, gelingen ihm phantastische, beschwörendc Formgebär-
den. Überhaupt ist der englische Zug zum Gcspenstischcn
vielfach spürbar.
Es sci abschließend versucht, dem Leser die Expositionen der
wichtigsten Länder in einem „tour d'horizon" vorzuführeni
Wäre ein Preis für den am besten ausgewählten Pavillon zu ver-
geben, so hätten wohl die USA gute Chancen gehabt. Vom Art
Institute of Chicago ausgewählt, zeigt ihr Pavillon eine Auswahl
von Städtebildcrn moderner amerikanischer Künstler. Vorzüg-
lieh ein Dreiklang von Feininger, sehr eindrucksvoll Ben Shahn,
gleich daneben ein berserkerhafter de Kooning, wohl eines der
besten Bilder des abstrakten Expressionismus.
England zeigt neben Chadwick den halbabstrakten Hitchins, eine
Art englischer Max Weiler und ebenso dürftig wie dieser, so-
dann einige jüngere Realisten. Frankreich bietet neben Villon
einen Saal Dunoyer de Segonzac, dessen Auswahl keine Emp-
fehlung für den Maler ist. Tal-Coat, ein großspurigcr Abstrak-
ter mit einer lehmig-schmutzigen Palette, wird mit verhängnis-
voll vielen Bildern vorgeführt, ebenso Bernard Buffet, der Ver-
künder der „tristitia" des cxistentialistisehen Jahrhunderts.
Vollkommen unverständlich ist es, wie man Adam, der wohl
den internationalen Graphikprcis verdient hätte (der an den
Japaner Munakata ging), in zwei schlecht belichtete Seitenka-
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