Die europä' ehe Teppicherzeugung umfaßt im Verhältnis zur
jahrhundertelangen orientalischen Produktion nur eine relativ
kurze Zeitspanne. Sie verdankt ihre Entstehung nicht dem
Wunsch nach Nachahmung der islamischen Werke, sondern dem
Bedürfnis nach einer dem barocken Innenraum entsprechenden
Bodendekoration auch im textilen Bereich. Denn obwohl die
orientalischen Teppiche bereits seit dem späten Mittelalter nicht
nur bekannt, sondern auch als Kunstwerke geschätzte Objekte
der Sammeltätigkcit waren, so blieben sie doch immer Einzel-
stücke ohne inneren Zusammenhang mit dem sie umgebenden
Raum und seiner Dekoration. In bewußtem Gegensatz dazu ver-
wenden die Barockteppiche von Anfang an die ihnen zeitgleichen
europäischen Muster und Ornamentformen.
Die fortschreitende Zusammenfassung des Innenraumes zu einer
dekorativen Einheit unterwirft im Spätbaroek die Teppichdeko-
ration den gleichen Gesetzen wie die übrige Raumausstattung.
Die Teppiche treten damit, obwohl keine feststehenden Wand-
teile, sondern bewegliche Ausstattungsstücke, in ein direktes Ver-
hältnis zur Architektur und deren Dekoration. Wie die Wände
eines Raumes auf einander bezogen und abgestimmt sind, ohne
sich völlig zu gleichen, so bildet nun der Boden und sein Belag
das künstlerische Gegenstück zur Decke. Die enge Beziehung
zur architektonischen und dekorativen Gestaltung des Raumes
läßt sich besonders deutlich an den französischen Savonnerien
des späten 18. Jahrhunderts erkennen. Viele dieser Stücke über-
nehmen nicht nur ihr Mustersystem, sondern auch ihre Schmuck-
formen aus der Deckendekoration. Das zeigt sich am klarsten
wohl in einer in der Deckenausstattung dieser Zeit sehr beliebten
liorm, die, obwohl ein nur hier sinnvolles Motiv, zugleich mit der
Gcsarntübernahme der Dekorationsformen auch in die Teppich-
aussehmückung eingedrungen ist: Eine von einer Mittelrosette
ausgehende vielteilige Schirmform, die in ihrer radialen Ein-
teilung und dem in konkaven Bogen geführten Außenrand noch
deutlich die Grundform eines aufgespannten Zeltes oder Schir-
mes bewahrt. Auch in der Umsetzung in feste architektonische
Formen bewahrt dieses Motiv einer textilcn Uberdachung noch
den Charakter des Zusammenklappbaren und Wegnehmbaren.
In der Plaionddekoration läßt sich dieses System bis in die Spat-
antike zurückverfolgen; nun aber erscheint es als eine an sich
am Boden sinnlose Form auch in den Teppichen. (Abb. 2.)
Abb. 1. Gnargn Rlchnrdson, Entwurf lür du Dock: clnu Schlafxlmmnrs. London 1786