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Volltext: Alte und Moderne Kunst I (1956 / Heft 4)

Wer in dcn Wfochen des September und Oktober Gelegenheit 
hatte, durch Westeuropa zu reisen, dem bot sich die Möglich- 
keit, einige der bedeutendsten Meister der Kunst des 20. jahr- 
hunderts in großen Ausstellungen zu studieren und den so ge- 
wonnenen Überblick zu einem Querschnitt durch die künstleri- 
schen Tendenzen der Gegenwart auszubauen. Ein Bericht über 
diese Expositionen kann darum am besten nach kunstgeschicht- 
liehen Gesichtspunkten abgefaßt werden. 
Welche Wege die europäische Reaktion auf den Impressionismus 
einschlug, kann man gegenwärtig am besten in München ver- 
folgen, wo zwei der wichtigsten „patres" der Moderne gezeigt 
werden. Der eine Weg führt zur vertieften Auseinandersetzung 
mit den Problemen der Bildstruktur und gipfelt im nahezu ver- 
bissenen Ringen um die Objektivation eines fcslgefügten Welt- 
bildes - Cezanne ist sein Herold, ein Künstler, in dessen 
Bildern die Welt buchstäblich einen neuen Schöpfungstag an- 
tritt. Die flackrige, fragmentarische Augcnblickswelt der Im- 
pressionisten strafft sich, der bunte Oberflächenreiz wird durch- 
sichtig und dazu befähigt, kosmische Spannungen zu spiegeln. 
Anders Van Gogh: führt im cezanneschcn Gestaltungsakt die 
demütige Beharrlichkeit des Künstlers zum Sieg über das Subjek- 
tive, über das bloß Empfundene, so entladen sich im kurzen Le- 
benswerk des Holländers die Energien einer Daseinsinbrunst, 
deren romantische Gebärde der ganzen Welt, dem Kosmischen 
wie dem Kreatürlichen gilt. 
Aus diesen beiden Versuchen, die Welt mit neuer Intensität zu 
erleben und zu einem Ganzen zu führen, das mehr über sie 
aussagt als die bloße Wiedergabe, lassen sich die wichtigsten 
Strömungen unsercs Jahrhunderts ableiten. Deutschland, das 
heute noch Van Gogh als einen Apostel verehrt (worüber die 
Besucherzahlen dcr Münchner Ausstellung berichten), erschloß 
sich der ekstatischen Ausdruckswelt rascher als der Bildfügung 
des Franzosen, obzwar nicht vergessen sei, daß die Berliner 
Nationalgalerie als erstes öffentliches Museum 1900 eine Land- 
schaft von Cezanne erwarb. 
Die Dresdncr „Brücke" nahm sein Vorbild auf und formte 
daraus die Physiognomie des deutschen Expressionismus. Der 
bedeutendste Meister dieser Gruppe, ihr Wortführer Ernst Lud- 
wig Kirchner, wurde im Stuttgarter Kunstverein in einer 
schönen Ausstellung gezeigt. Der Überblick über die Gemälde 
konnte nicht ganz befriedigen, da auf bedeutende Werke aus 
öffentlichem Besitz verzichtet werden mußte. Vorzüglich war 
hingegen die Auswahl aus dem graphischen Werk des Künstlers 
zusammengestellt. Deutlich führen hier die Spuren zu Munch 
und auch verschiedene Parallelen zu Nolde werden evident. Das 
Stuttgarter Kunstkabinett, das sich seit Jahren darum bemüht, 
Kirchner in den internationalen Kunsthandel einzuführen, ver- 
waltet heute den Nachlaß des Künstlers und eine Reihe von 
Bildern, die aus den Beständen der ehemaligen (Iurt Valentin- 
Gallery in New York zurückgekauft wurden. Die Sturm-und- 
Drang-Jahre des Expressionisten Kirchncr rechtfertigen dieses 
spekulative Beginnen, dem besonders in dcn Vereinigten Staaten 
freundliche Resonanz zuteil wird -- doch konnte auch die Stutt- 
garter Ausstellung unsere Bedenken gegenüber dem späten 
Kirchner der zwanziger- und dreißiger Jahre nicht zerstreuen. 
Selbst wenn man von platten Anleihen bei Picasso absieht, kann 
man nicht umhin, in diesen Bemühungen die Anstrengungen 
einer gebrochenen Vitalität zu sehen, der die ursprüngliche 
Bildvorstellung abhanden gekommen ist, und die sich zu gro- 
tesken Verrenkungen genötigt sieht. 
Kirchncr konnte nicht über seinen Schatten springen. Daß dies 
seine subjektive Tragik und keineswegs ein Beispiel für das 
„deutsche Schicksal" im Umgang mit Formproblemen ist, zeigt 
die Ausstellung, die soeben im Züricher Kunsthaus über das 
Lebenswerk des rheinischen Bildhauers Vfilhelm Le h m bru c k 
eröffnet wurde. Lehmbruck ging bereits 1907 nach Paris, wo 
ihn das Werk Rodins anlockte. Bald jedoch reift in ihm eine 
andere Formgesinnung heran, er befreit sich vom Pathos der 
weitausgreifendcn Gesten und gelangt für kurze Zeit an einen 
Punkt in der unmittelbaren künstlerischen Nachbarschaft Mail-
	        
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