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Volltext: Alte und Moderne Kunst II (1957 / Heft 2)

 
Abb. 4. Bildtafel dies Verduner Altares. Szene aus der Zeit unter dem 
Gesetz (sub lege): Himmelfahrt des Elias. 
leihen wollte - lassen unwillkürlich an antike Statuen denken. 
Dabei durchpulst alle Gestalten kräftiges Leben, und sie sind 
oft in lebhafter, charakteristischer Bewegung wiedergegeben. Als 
Beispiel möge die Himmelfahrt des Elias dienen, den die Hand 
Gottes so mächtig zum Himmel emporreißt, daß er dem stau- 
nend dastchcnden Elisäus kaum seinen Mantel zuwerfen kann. 
So kündigt sich im Werk des Meisters Nikolaus ein neuer Figu- 
renstil an. Die Komposition zeigt noch die Geschlossenheit der 
älteren Zeit, aber schon gemildert durch sorgfältige Behand- 
lung der sich vom Körper langsam lösenden Gewandung, durch 
liebevolle Nachbildung der Pflanzenwelt und vereinzelt sogar 
schon ein Eingehen auf die seelischen Regungen des Menschen. 
Das Werk des Nikolaus von Verdun entstand an einer Zeiten- 
wende. Um dic Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert vollzog 
sich eine der bedeutendsten Wandlungen im abendländischen 
Denken. Damals, und nicht erst in der Renaissance, verschob 
sich das Schwergewicht des Interesses von der Gemeinschaft 
auf das Individuum. Die Gotik ist bereits ein durchaus subjek- 
tiver Stil. Die Einzelpersönlichkeit rückt immer weiter in den 
Vordergrund des Denkens und Fühlens. Diese folgenschwere 
Wandlung ist schon ganz leise bei Nikolaus von Verdun zu spü- 
ren. In seinen späteren Werken, an denen sich bezeichnender- 
weise der Akzent vom Email auf die Plastik verschiebt, wird 
sie noch deutlicher. 
Nicht geringere Aufmerksamkeit als die künstlerische Gestal- 
tung verdient auch das geistige Programm des Verduner Altars. 
Es entwickelt eine grandiose Geschichtstheologie. Schon der ober- 
flächlichc Augenschein legt nahe, daß die Bilder nach einem 
bestimmten Plan angeordnet sind. Die ganze Bilderwand samt 
den beiden Seitcnflügeln ist in drei übereinanderliegende, waag- 
rcchte Zonen geteilt, die durch Metallbänder mit der Widmungs- 
inschrift voneinander getrennt sind. Und jede dieser drei Zonen 
bedeutet ein heilsgeschichtliches Zeitalter. Die oberste, durch 
die Inschrift „ante lcgcm" gekennzeichnet, stellt die Zeit vor 
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Vorbilder für die gnadenhafte Erfüllung im Neuen Testam 
der die mittlere Zone gewidmet ist: die Zeit „sub gratia", ut 
der Gnade. Dies ist das messianische Zeitalter, in dem die 
samte Menschheit erlöst wurde und in dem wir heute noch lel 
Die Bilder sind nun so angeordnet, daß jeweils drei in vertik: 
Reihe einander zugeordnet erscheinen: den beiden Vorbild 
aus dem Alten Testament (ante legem und sub lege) entspr. 
in der Mitte die Erfüllung im Neuen Testament (sub grat 
Am Beginn steht die Reihe: Verkündigung Isaaks (ante legt 
- Verkündigung Samsons (sub lege) - Verkündigung Chi 
(sub gratia) und geht in 15 derartigen Entsprechungen die ga 
Heilsgeschichte durch. Einzelne Beispiele seien hier angefül 
Durchzug durchs Rote Meer - das eherne Reinigungsbecken 
Tempel - die Taufe Christi; Opfer des Melchisedech - 
Manna - das Letzte Abendmahl; Joseph wird in die Ziste 
geworfen - Jonas wird vom Secungeheuer verschluckt - Gi 
legung Christi; Entrückung Hcnochs - Himmelfahrt des E 
- Christi Himmelfahrt; Arche Noe - Gesetzgebung auf S 
- Herabkunft des HI. Geistes. Und als Abschluß der geschit 
liehen Zeitalter erscheint auf den letzten sechs Tafeln des A1 
die Vollendung der Zeiten in den Letzten Dingen: Wiederkt 
des Herrn, Auferstehung der 'I'oten, Gericht, Himmel, Hölle. 
Der Verduner Altar bietet auf diese Art eine grandiose Ül 
schau über die gesamte Heilsgeschichte, ein Programm von 
gewöhnlicher theologischer Tiefe. Es kommen noch die z: 
reichen leoninischcn Hexameter hinzu, die dieses Programm 
jedem Bild in geistvoller Weise auslegen, und das reiche Beiw 
von Propheten und personifizierten Tugenden mit ihren Te). 
und Attributen, die durchweg ihre bestimmte Bedeutung im , 
stigcn Gesamtplan des Werkes haben. Den Verfasser dieses l 
nes muß man wohl unter den Chorherren des Stiftes Klos 
neuburg suchen. Vielleicht ist Propst Wernher, den die Vl 
mungsschrift so ausdrücklich als Stifter hervorhebt, der geis 
Vater des Programms. Es ist jedenfalls auf der Theologie 
Ordensvatcrs St. Augustinus aufgebaut und zeigt starke I 
flüsse der Schriften des Honorius von Augustodunum. 
Bei aller theologischen Tiefe ist das Emailwerk des Nikol 
von Verdun von großer Anschaulichkeit undunmittelbarer B 
wirkung. Es war an der Kanzelbrüstung gleichsam eine Illus" 
tion der Predigt für das einfache Volk, das nicht lesen kon 
und hier eine Bilderbibel vor Augen hatte. Und mit welc 
Liebe das Volk an dem Werke hing, zeigte sich nach dem Brat 
im Jahre 1330, als Propst Stephan die Tafeln zur Restaurieri 
hatte nach Wien bringen lassen. Dazu schreibt die Kle 
Klosterneuburger Chronik: „Die hauer clafften in dem pirg, 
(der Propst) hiet die taffl den juden versetzt und hiet dai 
gepauet, sam sie noch vill claffen." Man schätzte den Altar 
hoch, daß auf den Glasfenstern des Kreuzganges, die nach 11 
entstanden, Bilder des Verduner Altars kopiert wurden. 
Der Verduner Altar darf nicht allein als künstlerisches u 
historisches Denkmal bewertet werden. Er ist auch eines i 
frühesten und eindrucksvollsten Zeugnisse der augustiniscl 
Geistigkeit im Stifte Klosterneuburg. Von Anfang an war er 
Mittel der Seelsorge, aus klösterlichem Geiste entstanden. L 
gerade heute sieht das Stift Klosterneuburg in ihm ein grol 
Programm vorgebildet. Das Werk hat ein biblisches Thema, 
zum liturgischen Gebrauch bestimmt und dient der Belehru 
des Volkes: Bibel und Liturgie dem Volke wieder nahezubringi 
das ist auch das Ziel der Volksliturgischen Bewegung, die sl 
in unseren Tagen von Klosterneuburg aus die Welt erobert h 
Was im Werk des 12. Jahrhunderts angedeutet ist, wurde 
20. Jahrhundert in die 'l'at umgesetzt.
	        
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