ÜBER DAS GEGENSTÄNDLICHE DER BILDENDEN KUN
VON ERNST KOL
Fast so alt wie die Kunst selbst ist der Fehler, die Wertigkeit
von Gemälden oder Skulpturen nach dem Grad ihrer imitativen
Qualitäten zu beurteilen. Die berühmte Kiinstlerlegende von der
so trefflich geglückten Imitation der Wirklichkeit, daß sich Lebe-
wesen aller Art hätten davon täuschen lassen, ist typisch und
findet sich in allen Perioden und allen Gegenden, in denen jemals
Kunst hervorgebracht wurde. Kunst ist dieser Auffassung nach
„Augentäuschung" - trompe oeil. Schon allein die Tatsache
daß das Wort „Täuschung" in irgendeiner Form in solchen Defi-
nitionen vorkommen m u ß , bedeutet implicite, daß Kunst dieser
Art nicht „echt" sein kann. - Gehen wir nunmehr zu folgender
Überlegung über: Es ist einer auf das Imitative ausgerichteten
Kunstübung nur bis zu einem sehr relativen Grad möglich, dem
gesteckten Ziel nahezukommen. Unterschiede des Formates, der
Dimensionen, der Stofflichkeit leuchten sofort ein und ebenso
evident ist die Feststellung, daß diese Unterschiede nicht gra-
dueller, sondern substantieller Natur sind. Ein Kunstwerk also,
das die Natur nachahmen wollte, kann es damit schlechthin nicht
geben - es sei denn, man betrachtet einen Roboter als Kunst-
werk( und gerade dieses Beispiel dokumentiert die heillose Unter-
legenheit der Imitation vor dem Original auf das trefflichstcl).
Umgekehrt ist es aber auch so, wie Oscar Wilde einmal unüber-
trcfflich witzig gemeint hat: „Seit Jahrtausenden bemüht sich
die Natur, die Kunst nachzumachen - aber es wird ihr nie ge-
lingen." Deutlich genug ist damit gesagt, daß man im Kunstwerk
mehr und anderes ausdrücken kann, als dies der Natur möglich
ist. Da nun unbezweifelbar eines der Hauptthemcn der Kunst die
Auseinandersetzung mit Elementen der dinglichen Umwelt (ver-
gröbernd: „Natur") ist, erscheint damit festgestellt, daß Natur
und Kunst in der Schaffung anschaulicher Werte zwar auf weite
Strecken nebeneinandergehen, daß aber das Endziel des Schöp-
ferischen in beiden Bereichen ein völlig verschiedenes sein mufl.
Wenn eindeutig im Kunstwerk Dinge dargestellt wurden und
werden, die es in der sinnlich erfaßbarcn Natur nicht gibt, so ist
damit zumindest indirekt schon ausgedrückt, daß es gerade der
Gehalt an nichtanschaulich-unimitativen Werten ist, der ein
Kunstwerk erst zu einem solchen stempelt. Auch im naturalisti-
schesten Kunstwerk finden sich diese Werte in reicher Zahl und
es fällt nicht schwer, sie zu benennen. jedes Bild ist „kompo-
niert", d. h. nach bestimmten Spielregeln gebaut, die sich auf die
Gliederung des gegebenen Formates beziehen. Ferner ist klar,
dafl die farbige Zusammenstellung in einem Gemälde eine andere
sein muß als in der Natur: Vielfach schlagen sich Farben, deren
Nebeneinander in der Natur durchaus möglich ist, im Bilde auf
das unheilvollste. Auch ist es klar, daß die zentralperspektivische
Darstellung im Bilde die lilächigkeit der gegebenen Malebene als
ästhetischer Grundlage nicht zerstören darf. Die Perspektive im
Bild muß ganz in diesem Sinn gleichzeitig fliichengliederndes
Ornament, d. h. aber Komposition sein. Daß ferner die „Kunst"
bei der Kunst im liortlassen besteht, d.h. in der Auswahl der
darzustellcndcn Elemente, weiß man schon wesentlich länger als
seit Liebermann, der dies zuerst aussprach. Und wenn Ingres
einmal bemerkte, in jedem Porträt müsse ein Stück Karikatur
enthalten sein, so bedeutet das nichts anderes, als daß gewisse
Elemente im Bild übertrieben werden müßten, um zur vollen
Form- und Themengerechtigkeit zu führen.
All dies beweist, daß erst das Eindringen naturfremder Elemente
das Kunstwerk zu einem solchen macht.
Aber auch im Thematischen tut sich das grundlegende Axiom
kund, der Gehalt an Unanschaulichem mache ein Kunstwerk erst
zu einem solchen. Denken wir zunächst daran, daß rein quan-
titativ (wenn man Kunstwerke aller Zeiten und Länder in Be-
28
tracht zieht) die Darstellung von Dingen, die man mit re
Auge nicht wahrnehmen kann, bei weitem überwiegt. Daz
hört der ganze gewaltige Komplex religiöser Kunst - kur
Darstellung des ("Jbersinnlichcn schlechthin, das im Kunst
nun mit einem Mal veranschaulicht wird. Aber auch im
scheidensten, scheinbar nur auf das Imitative ausgerich
Stilleben eines Realisten im 19. Jahrhundert tut sich unzwi
haft das Element der sogenannten „Weltanschauung" kunc
desThcmaist, wenn künstlerisch gcsehemaus einer eindeutig
baren Einstellung heraus konzipiert und es ist gerade diese
stellung, diese Meinung über die Welt, eben die „Anschau
über sie, die letztlich für die Art der formalen Lösung im
testen Sinn des Wortes verantwortlich ist. Die Natur aber
keine Weltanschauung.
In Ergänzung und Korrektur unseres eben ausgcsproch
Axioms sollten wir also sagen: Der Gehalt an anschaulicl
machtcm Unanschaulichcn ist es, der ein Kunstwerk ausm
Das anschaulich gemachte Unanschauliche aber hat einen
wahrscheinlich tiefgreifendcn didaktischen Wert. Oscar Y
sagte einmal, der Londoner Nebel sei eine Erfindung der fr:
sischen Impressionisten: Mit einer Feststellung hat er inst
völlig recht, daß vor den Impressionisten (vor Monet vor al
kein Mensch (Turner ausgenommen) den Nebel als etwas
stellenswertes, als positives Phänomen gesehen hatte. Da:
anschaulich gemachte Unanschauliche (und auch der Londone
bel war vor Monet „unanschaulich") aber bildet jene Ideale h
die oft auf das breite Publikum geradezu verheerend wirl
Die Vorstellung vom Aussehen der Madonna ist heute in
noch im Geschmack der Massen durch die von Guido Reni
Carlo Dolci geschaffenen Prototypen bestimmt. Es scheint,
künstlerische Schönheitsideale (wie die hängenden Schu
des Biedermeier, der hohe Büstenansatz des llmpire, die tai
lose Figur der Zwanzigerjahre) ihrerseits sogar auf die N
also auch auf Menschen von Fleisch und Blut zurückwi
können.
Aber der Bereich des anschaulich gemachten Unanschauli
ist nicht nur durch die Entdeckung bisher nicht kunstfähiger
tivc und durch die Schaffung von Idealtypen gegeben, es
delt sich vielfach wirklich um Veranschaulichung von Dir
die mit dem normalen Auge nicht zu sehen sind. Wenn Wa
Kandinsky in seiner Spätzeit immer wieder Bilder nach M
schnitten schuf, wenn die Surrealisten gleichsam die Seele u
Mikrotom legen und Querschnitte des Innenlebens darstt
handelt es sich um nichts anderes, als um ein zähcs, unerl:
ches Weitcrschieben der Grenzen des Anschaulichcn: Hier
die Kunst den Naturwissenschaften auf dem Fuß, sie verleibt
das neuentdeckte Stückchen Natur ein, transportiert es um
nützt es zur Auslösung von Schöpfungen, die wiederum .
imitativ sind, sondern Stellungnahme, Auseinandersetzung
deuten. -
Es wurde schon mehrfach angedeutet, daß jener Prozeß
künstlerischen Einverleibung eines gegebenen Naturvorbild
der sogenannten „Umsetzung" gipfelt, deren Ergebnis dani
fertige Kunstwerk ist. „Umsetzung" bedeutet vom Formalci
die "Malgerechtmachung" des gegebenen Vorbildes, von
haltlichcn her seine Deutung und Durchsetzung mit Züget
weltanschaulichen. Ein Beispiel: Eine Wachsfigur _ rein it
tiv - ist keine „Umsctzung" (es sei denn eine rein mechan
in ein anderes Material), eine Plastik von Wotruba (ob ma
jetzt bejaht oder ablehnt) ist das Ergebnis eines solchen Pri
ses. „Umsetzung" bedeutet damit, grobmechanisch auf das