und sei sie noch so frei - auf bestimmte Harmonien und eine
bestimmte Tonart bezieht, ein strenges Gefüge aufweist und in
ihren Grundzügen vorher festgelegt wird. S0 hat der Saxo-
phonist Colcman Hawkins an seiner „Picassoßlmprovisation,
die etwa vicr Minuten dauert, acht Stunden „gearbeitct", bis sie
eine ihn befriedigende Form gefunden hatte. Was die chinesische
Kalligraphie betrifft - und es ist trotz seiner vagen Ausdrücke
anzunehmen, daß sich Mathieu auf sie bezieht - so steht bei ihr
keineswegs der Begriff der Schnelligkeit der Ausführung im
Vordergrund. sondern die beiden Begriffe „Ya" und „Su". „Ya"
heißt dabei etwa „geschmackvoll, elegant" und „Su" „gewöhn-
lich", wobei sich der Begriff des Geschmackvollen, lilegantcn
mit dem des Ausdrucksreichen verbindet, der nur durch lange
Übung erreicht werden kann. Im übrigen nimmt die chinesische
Kalligraphie Bezug auf bestehende Zeichen, auf Pictogramme,
war anfänglich Darstellung des Gegenstandes. die sich erst durch
Reduktion zum Idcogramm wandelte. Abgesehen davon, daß
nach dem großen Sinologen Paul Pelliot die Kalligraphie nicht
am Anfang der chinesischen Malerei steht, geht hier das Ab-
bild und die Bedeutung dem Zeichen voraus, genau das Gegen-
teil von dem, was Mathieu will und behauptet. Denn er möchte
Zeichen setzen, denen keine Idee vorausgeht, will die Malerei
endgültig von jedem Bezug zum Thema, zur Natur, zu einem
Schönheitskanon lösen, sie „befreien". Der sogenannte „schöpfe-
rische Akt" des Malcns selbst wird Gegenstand des Malcns, die
Gebärdc, die Schnelligkeit, die Gymnastik der Exekution. Das
ist nach ihm die „wahre schöpferische Freiheit".
Erst damit sieht er das „schwere jochh aristotelischen und pla-
tonischen (hcllenischen) Geistes, das auf dem Abendland
„lastet", abgeschüttelt, des Geistes, der seit dem 13. Jahrhundert
die Dekadenz unserer Zivilisation und vor allem die „geistige
Verkalkung der Renaissance: Botticelli. da Vinci, Raphael, Ti-
zian", verursacht habe.
Worin nun drückt sich für Mathieu dieser Geist aus, gegen den
er im „Aufstand gegen die Väter" sein Verlangen nach absoluter
und bindungsloser Freiheit plakatiert? Seiner Meinung nach
darin - und hier zeigt sich „le terrible simplificateur" -, daß
in ihm der Mensch das Maß des Kosmos bestimmt und „ver-