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Volltext: Alte und Moderne Kunst V (1960 / Heft 1 und 2)

Als in den schicksalsschweren Jahren um 1520 die Scharen der Spanier unter Cnrtcz ins Herz Mexikos vorstießen, 
vollzog sich die Begegnung zweier Kulturkreise, die zeitlich zwar auf einer Ebene standen. entwicklungsgeschicht- 
lich aber durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt waren; man kann die Kulturen Mittelamerikas, die in der Zivi- 
lisation der Azteken gipfelten, in keiner Weise mit unserem Mittelalter vergleichen, ja nicht einmal mit der klassischen. 
mittelmeerischen Antike. Ihre nächsten „inneren" Verwandten in der Alten Welt sind ohne Zweifel die Hochkulturen 
des Alten Orients, also Ägyptens, des Zweistromlandes, des Industals. Die seit eh und je festgestellten äußeren Ähn- 
lichkeiten - auch mit der Kunst des ältesten China - lassen sich sicherlich nicht durch äußere, materielle Einflüsse 
erklären, sie entspringen vielmehr einer verwandten inneren Verhaltensweise, die wohl in der Tatsache gipfelt, daß 
i.n den erwähnten Kulturbereichen alles Leben bis hinab in die kleinste, scheinbar belangloseste Äußerung nunminos, 
bedeutungsgeladen, bezugreich, total eingesponnen in ein kosmisch orientiertes, durch feste zeitliche Rhythmen ge- 
gliedertes System war. 
Wir können noch einen Schritt weitergehen: Da die Gemeinschaftswesen Mittelamerikas im Gegensatz zu denen des 
Alten Orients keinesfalls über eine straffe, restlos und konsequent durchorganisierte Staatsform verfügten, sondern 
- selbst noch unter den spätzeitlichen Azteken - nicht viel mehr als etwas fester gegliederte Stammesverbände, 
da fernerhin die Kunst der Metallverarbeitung in rein technischer Hinsicht (keinesfalls künstlerisch!) erst in An- 
sätzen bekannt war, nehmen die Kulturen Mittelamerikas die gleiche Position ein wie etwa das Ägypten der letzten 
vor- und frühdynastischen Zeit; sie stehen gleichsam mit einem Bein noch im Ncolithikum, darin unterschieden auch 
von den mächtigen, straff zentralistisch geführten, weit stärker auf das Zivilisatorische hinstrebenden Gemeinwesen der 
Inkas in Südamerika. 
Die Katastrophe, die beim Zusammentreffen der Spanier mit den Azteken entstand, war damit von zwangsläufiger 
Natur, denn es gab in den Weltbildern beider Elemente nichts Gemeinsames, Vergleichbares, apriorisch Verständ- 
liches: Die Kulturen Mittelamerikas mußten unterliegen, weil sie älter waren, weil ihr durchaus archaisches Denken 
jegliche fruchtbare Kontaktbildung ausschloß. 
Als wichtigster Wesenszug der Kulturen Mittelamerikas haben wir bereits den theokratischen Charakter all den 
kleineren und größeren, älteren und jüngeren Gemeinwesen hervorgehoben. Ein weiteres Charakteristikum ist die 
große Vielfalt von Stammes- und Staatsgebilden, mit denen wir es zu tun haben. Die Basis, auf der sich das so reich 
differenzierte, mannigfaltige Gebäude der Kulturen Mittelamerikas erhebt, ist die sogenannte „archaische", auch 
„fot-rnative" genannte Periode der „Mittleren Kulturen", deren Anfänge bis in die Zeit um 1500 v. Chr. zurückreichen. 
Es handelte sich hiebei um in europäischem Sinn echt jungsteinzeitliche, locker gegliederte Gruppen von Stämmen 
und Individuen, die neben den genetisch älteren Ernährungsformen des Fischens, Jagens und Sammelns den Anbau 
von Mais und Bohnen betrieben, mit der Verwertung der Baumwolle vertraut waren, keramische Produkte zur Auf- 
bewahrung von Lebensmitteln anfertigtcn und Werkzeuge aus Stein, Knochen und Holz verwendeten. Zeremonial- 
charakter bestimmte das Leben, das Sakrale dominierte über das Profane. 
Die älteste Gemeinschaft, die aus dieser allgemeinen Grundlage erwächst und Anspruch auf den Titel „Hochkultur" er- 
werben kann, entsteht in den Schwemmland- und Sumpfgebieten im Süden des heutigen mexikanischen Teilstaates 
Vera Cruz; es handelt sich um die Kultur der „Kautschukland-Bewohner", der „Olmeken", die heute nach dem Haupt- 
fundort La Venta-Kultur benannt wird. In der Zeit von etwa 1200 bis 200 v. Chr. werden Zeremonialzentren mit 
festumrissenen Höfen und Pyramiden errichtet; besonders hohe Leistungen werden in der Bearbeitung der „Grün- 
steine" Jade und Nephrit vollbracht. Monolithköpfe im Gewicht von etwa 30t entstehen, kalendarische Formeln 
finden sich auf steinernen Türstöckcn und Stelen. Während kleine Tonfigürchen den Stil der „Mittleren Kulturen" 
fortführen, schaffen die Olmeken ihre ureigenste Leistung in Gestalt sehr unheimlicher, bald an Kleinkinder, bald an 
Krüppel mit deformierten Schädeln erinnerndcr Figürchen aus hartem, hochpolitiertem Steinmaterial; diese „baby- 
face"-Typen, deren eigentliche Bedeutung unbekannt ist, lassen immer wieder an den Archetyp des „Göttlichen Kin- 
des" etwa in der Art des etruskischcn, gesetzgebenden, erdentsprungenen Knaben Tages denken. Sehr wahrscheinlich 
sind die Olmeken auch Erfinder des miese-amerikanischen Zahlensystems und des daraus resultierenden Ritualkalen- 
ders von 260 Tagen. Die Mayas, über die noch zu sprechen sein wird, bauten ihn zu einer astronomischen Genauigkeit 
aus, die die Präzision des julischen Kalenders weit übertraf: Das Jahr zerfiel in 18 Monate zu 20 Tagen, die rest- 
liehen fünf Tage wurden als intermittierende, unheilbringende Periode angefügt. Es scheint überhaupt, als ob sich in 
den Mayas der Gcsamtcharakter der mittelamerikanischen Kultur in seiner Stellung zwischen einer geistigen Jung- 
steinzeit und einer machtvoll einsetzenden Hochperiode am klarsten ausprägen würde; diese Leute, die als einzige eine 
voll ausgebildete Hieroglyphcnschrift besaßen, deren astronomische Kenntnisse nicht genug bestaunt werden können, 
die über eine nach Millionen Jahren zählende Zeitrechnung mit mythischem Ausgangspunkt verfügten und mit der Er- 
findung der Zahl Null eine Leistung vollbrachten, die weder den Griechen, noch den Römern gelungen war, kannten 
die Töpferscheibe ebensowenig wie das Prinzip der echten Wölbung. Saiteninstrumente waren ihnen fremd, Räder 
brachten sie -- darin den Chinesen gleich, die mit der Erfindung des Schießpulvers nichts Rechtes anzufangen wuß- 
ten - nur an kleinen tönernen Kultfigürchen von gleichsam spielzeughaftem Charakter an. Von der Pflugschar 
wußten sie genau so wenig wie von Waffen aus Eisen, doch in der ersten Blütezeit (etwa 330 v. Chr. bis 630 n. Chr.) 
entstanden in Uaxactum, Tica und Copan riesige Zeremonialzentren, während die „Große Periode" (730 bis 900 n. Chr.) 
eine Kunst des Flachreliefs hervorbrachte, die in ihrem technischen und formalcm Raffinement nur mit den Lei- 
stungen des Alten Reichs in Ägypten verglichen werden kann. Vor einem Jahrzehnt wurden in Bonampak Wand- 
gemälde entdeckt, die mit der drängenden Fülle ihrer sich vielfältig überschichtendcn und übcrschneidenden Figuren 
Aspekte vorwegnehmen, die erst wiederum die Kunst des heutigen Mexiko (Orozco, Siqueiras) charakterisieren. War 
der Sitz der Maya-Kultur ursprünglich das Gebiet südlich der Halbinsel Yukatan, so verlegte sich im 9. Jh. n. Chr. 
das Schaffenszentrum auf die Halbinsel selbst, deren Hauptkultzentrum Chichen Itza (das freilich schon im S. Jh. ge- 
gründet worden war) prächtig ausgebaut wurde. Auch in Uxmal, Sayil und Kabah entstanden gewaltige Tempelpyra- 
miden, wuchtige Paläste, Prunkbauten, geschmückt mit der „Rüsselmaskf des Rcgengottes. 
Doch im 11. Jahrhundert setzte die Invasion der aus dem mexikanischen Hochland kommenden Tolteken dieser „Re- 
naissance" ein jähes Ende; die Tolteken importierten ihre eigene, qualitativ nicht immer gleichwertige Kunst, sie 
stellten z. B. im „Tempel der Schilde und Jaguare" in Form von Fresken ihren Sieg über die Maya dar, wobei sie sich
	        
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