scheidenden Funktionen lagen bei den Repräsentanten des Stammes, der von den Clan-Ältesten vertreten wurde. Sie
besorgten die Landverteilung, sie setzten das wirtschaftliche „Plansoll" fest, sie waren für die Ausbildung des Nach-
wuchses verantwortlich, sie führten als Berater des „Königs" das entscheidende Wort.
In der Kunst bedeutete das Auftreten der Azteken eine letztmögliche Verstraffung und Konzentration. Noch leben die
uralten Formen der „Mittleren Kulturen" fort, noch gibt es die neolithischen Tonidole, aber darüber hinaus nimmt
die Kunst im Zeichen einer totalen Hieratisierung packend dichte Formen an, wie wir sie mit einem derart tödlichen
Ernst, mit einer so extrahumanen Konsequenz nur in den Bereichen von Ur, Babylon und Assur finden. Technisches
Können ist die Voraussetzung höchster Ausdruckshaftigkeit, deren Skala sich durchaus in den Bezirken des Ewig-Ar-
chaischen bewegt. Humor und damit Humanitas haben hier nur am Rande Platz, und zwar in der technisch am lcich-
testen zu bewältigenden, der beweglichsten und am wenigsten sakral gebundenen Kunst der Buchillustration. Der
tödliche Ernst des Kultes, der, wie allgemein bekannt, im sakralen Menschenopfer gipfelte, das den Göttern Kraft für
ihr Wirken verleihen sollte, läßt kaum noch Raum für die heiteren, genremäßigen Beiläufigkeiten und Belanglosig-
keiten des alltäglichen Lebens. Im Schmuck seiner Tempelpyramiden, Paläste und bunt bemalten Statuen aus Lava-
stein in Verbindung mit den kunstvoll geschlichteten Schädel- und Gebeinhaufen geopferter Gefangener muß Tenoch-
titlan ein ebenso buntes wie barbarisches Bild geboten haben. Wir verstehen von dieser Warte den Bericht von Bernal
Diaz del Castillo, dem Verfasser der am stärksten persönlich gefärbten Berichte über die Eroberung Mexikos, wenn
er sein Erstaunen über die in das Himmelblau des Sees inmitten blühender Gärten gebreiteten Stadt Tenochtitlan be-
kundet: „Angesichts dieses zauberhaften Anblicks wußten wir nicht, was wir sagen sollten, wir wußten nicht einmal,
ob das, was vor unseren Augen lag, Wirklichkeit war oder nicht. War schon das Land bedeckt mit großen Städten,
so lagen im See noch viel mehr Siedlungen; das Wasser war belebt mit Booten, über die Kanäle spannten sich
Brücken, vor uns breitete sich die große Stadt Mexiko. . . es war wie in einer dieser zauberischen Halluzinationen,
von denen in der Amadis-Legende berichtet wird... alles schien uns wie ein Traum . . ."
Übrigens stammten die vollendetsten Kunstwerke dieses Bereichs nicht aus Tenochtitlan, sondern aus der Gegend
von Cholula, dem Mittelpunkt der Puebla-Mixteca-Kultur. Holzmasken und Messerhefte, besetzt mit Türkisen und
Muschelsehalen in Gestalt feinster Mosaike, eine bunt bemalte Keramik („Cholula-Ware") und nicht zuletzt illumi-
nierte Handschriften, darunter die heute in Wien befindlichen Codices Vindobonensis und Becker I wurden dort ange-
fertigt.
In scbroffem, aber glücklichem Gegensatz zu dieser ausgereiften Produktion stehen die Arbeiten in Ton, die von den
noch wenig durchforschtert Völkerschaften von Westmexiko (Colima, Nayarit) hergestellt wurden. Dieser Landstrich
war vielleicht ein echtes Rückzugsgebiet, in dem in paradiesiscber Geschichtslosigkeit eine ebenso naive, wie unbe-
fangene Frühkultur blühte. Hier konnte sich die Freude am Genremäßigen, Grotesken, Komischen und llumorvollen
ausleben, hier verspüren wir ein wenig vom Hauch jener Menschlichkeit, die den Hochkulturen so fremd war.
1 Maske. Stein, Muscl-telschalen, Türkisc. Grabbeigabe. Tcotihuacnn-Kultur. ZOO v. C._900 n. C. Mus. de Antropologia. Mexiko.
2 Hockender. Schwarzgrüner Stealit. Reste von Bemalung. H. 23 cm. La Venta-Kultur, 500-100 v. C. Mus. f. Völkerkunde, Berlin.
3 Musiknnt und Trinker. Ton. Reste von Bemalung. H. 37-42 cm. Westkulturen, 500 v. C.-1521 n. C. Slg. Stendahl, Hollywood.
4 Tonfigur. Bemalung von der Wcbtcchnik abgeleitet. Chupicuraro-Stil. H. 335 cm. Westkulturen. Slg. Proctor Staffel-d, Los Angeles.
5 Kopf eines Chac Mool. Rcgcngouheit. Kalkstein. Yucatan. jüngere Maya-Kultur. 948-1697 n. C. Mus. de Antropologia, Mexiko.