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Volltext: Alte und Moderne Kunst XII (1967 / Heft 94)

Die Wirkung dieses Gedenkens auf den 
Beschauer ist dabei in besonderer Weise 
erreicht. Bei ihrer Erklärung muß aber die 
Behauptung über Berninis Kunst zurück- 
gewiesen werden, sie sei in irgendeinem 
Betracht illusionistisch, sofern das heißen 
soll, sie erwecke den Anschein von realen 
Ereignissen, ohne daß zugleich jeder auch 
nur geduldete Versuch freundlicher Täu- 
schung ausgeschlossen ist; oder insofern es 
heißen soll, der Betrachter hätte in irgend- 
einer Weise an den dargestellten Gescheh- 
nissen zu partizipieren, sei es auch nur in 
freundlich nahcgelegtcr Träumerei. Was 
mit Illusionismus gemeint scheint, bedarf 
einer sorgfältigeren Bestimmung. 
Im Jüngsten Gericht Michelangelos ist uns 
eine Vnr-rlellung gegeben; und um, die wir 
in der Sixtinischen Kapelle iind, ist zugleich 
klargemacht, daß der Inlmll dieser Vor- 
stellung uns an Größe gewaltig übersteigt. 
In der Decke der gleichen Kapelle ist uns 
in den Propheten und Sibyllen und den um 
sie herum zu treiTenden sonstigen Vor- 
stellungsinhalten wieder eine Vorstellung, 
deren Inhalt uns an Größe gewaltig über- 
steigt, gegeben und darüber hinaus noch 
klargemacht, daß er in der Höhe, über uns 
erhaben, seinen Ort hat. (Wie die einzelnen 
Inhalte w Historien, Propheten usw. - 
sich im Einzelnen wieder zueinander ver- 
halten mögen, ist dafür, daß es sich um 
Vorstellungen handelt, gleichgültig.) Im 
Prinzip ist auch das Gaukelspiel der Per- 
siflage in Galleria Farnese der Inhalt einer 
Vorstellung, die für erhaben und groß 
ausgegeben wird. 
Aber auch bei Bernini haben wir solche 
Vorstellungen vor uns. Neu ist nur, und 
das ist das Wesentliche, daß z. B. der Priester 
die Handlung {winken der Unio mystica 
und der Auferstehung der Toten, zwischen 
den vorgestellten Exempla, vollzieht; ja, 
mehr noch, daß er, wenn er zu Boden schaut, 
die Toten sich freuen sieht, für die der 
Himmel, den er nur sieht, wenn er sich 
nach oben wendet, oiien ist; das heißt, daß 
die Vorstellungsinhalte, genauer: die Teile 
eines einzigen Vorstellungsinhaltes so auf- 
einander verwiesen sind, daß er, vom einen 
zum anderen, nur über sich (sich drehend 
und wendend) kommen kann. Die Rich- 
tungen, die reinen Richtungen der unab- 
dingbaren Verweisungen (nicht aber deren 
Inhalte) sind mit den reinen Richtungen der 
dem Priester mölglirben Bewegungen (nicht 
aber deren Zielen) identisch. Dadurch haben 
diese Inhalte, über die von Michelangelo 
vorgestellten hinaus, eine Wirklichkeit; eine 
Wirklichkeit, die aber in keinem Illusionis- 
mus besteht; vielleicht, daß unter dem 
Eindruck der herrschenden Lehre, leichter 
auf einem anderen Gebiet ein Vergleich zu 
finden wäre: im Preußen des 19. Jahr- 
hunderts möchte so durchaus ein Mann 
denkbar sein, der in keiner Situation von 
seinem Pflichtbewußtsein, das er an Fried- 
rich II. geschult habe, loskomme; er lebe 
in fortwährendem tätigen Gedächtnis des 
großen Königs: so wird er vielleicht wirk- 
lich nichts tun, auf das das Gedächtnis dieses 
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Königs nicht von bestimmendster Wirkung 
wäre; wohin er sich wendet, er wird seiner 
denken; was ihm begegnet, wird ihn an 
ihn erinnern: gleichwohl bleibt er, nicht 
Don Quijote, fern davon, den König für 
etwas Lebendes zu nehmen. In der Cornaro- 
kapelle haben die Vorstellungsinhalte in 
gleicher Weise Wirklichkeit und Macht; 
doch ohne jeden Illusionismus, sowohl 
ohne die Illusion, daß die Inhalte möglicher- 
weise real wären, wo sie nur Vorstellungen 
sind; wie auch ohne, daß die Vorstellungen 
Illusionen wären, denn sie sind wirklich 
und voll Macht. Und diese Wirklichkeit 
führt entsprechend dazu, daß der Priester, 
der, um die Vorstellung in ihren Teilen 
anzusehen, immer über sich selbst geht und 
sie so erfahren kann, zugleich, wie und 
wohin immer er sich bewegt, solange er 
nicht die Augen schließt und zu leben 
aufhört, auf Teile dieses einen Vorstellungs- 
inhaltes stößt und in deren unabdingbaren 
Verweisungen die Wirklichkeit dieser Vor- 
stellung als Macht erfahren rlmß. 
Michelangelos Gestalten in der Sixtina 
waren bloße Vorstellungen; in ihnen waren 
Maße aufgestellt, die Michelangelo wesent- 
lich schienen und an denen der Betrachtet 
zwar nichts mehr ändern konnte; aber er 
konnte sich von Michelangelos Werken als 
bloßen Vorstellungen, wozu sie ihn souve- 
rän genug ließen, abwenden. Von Berninis 
Gestalten in der Cornarokapelle, die in 
ihren eigenen Relationen in alle nur denkbar- 
möglichen Richtungen der Menschen ver- 
wiesen sind, kann man sich nicht abwenden; 
man kann sich nur gegen sie wehren A 
wobei Jacob Burckhardt, als lehrreiches 
Beispiel, diesen Unterschied beider durch- 
litten hat. i 
Für uns hier gelte, daß der Priester, wohin 
immer er schreite, sich neige und die Arme 
erhebe, fortwährend, unablcnkbar, ja immer 
hingelcnkt in diesem dreifach entfalteten 
und im Gedenken zusammengenommenen 
Gedächtnis der Heilswirkung Gottes lebt. 
Wodurch hier ein Ort geschaffen ist, der 
nach Raum und Zeit entfaltet, vollständig 
ist, irreal und wunderbar. Ein Ort, den 
Bernini auf dieser Stufe seiner Entwicklung, 
nur vom Priester, nicht von den Gläubigen, 
die außerhalb der Chorschranken bleiben 
müssen, nicht auch, nicht einmal in der Vor- 
stellung, von den dargestellten Mitgliedern 
der Stifterfamilie Cornaro betreten wissen 
wollte, die von Logen aus in „ewiger 
Anbetung" der Feier der Messe an dem 
Altar, dessen Altarbild die Unio mystica 
der Therese zeigt, in der Kapelle, wo zu- 
gleich der Auferstehung der Toten gedacht 
ist, beiwohnen. Sie tun dies als Vorbilder 
für die Andächtigen, lesend, betend, schau- 
end, diskutierend: frei weilend, wie Bernini 
es in Raffaels Disputa, die für die räumliche 
und Sinnordnung in manchem ein Vorbild 
war, sehen gelernt hatte. Außer Bernini 
aber, so ist zu schließen, ist kein Künstler 
zu Finden, der, wie er, hier, in S. Andrea 
al Quirinale, und im heiligen Bezirk von 
St. Peter, das Wesen der römischen Kirche 
anschaulich und wirklich gemacht hätte.
	        
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