4 Maurice Utrillo, Bcrlioi Haus au!
dem Mnntmarlrc (La rue du Mont-
Cenis).
5 Marc Chngall, Die in eine Frau
verwandelte Katze, Radierung nach
La Fontaine.
6 Paul Klee, Agnus Dci.
typus, das Urbild aus der Zeitlosigkeit, aus einem für
uns nur denkbaren, nicht erlebbaren Bereich herabsteigt,
herabsinkt und eintaucht in die Zeit und in der Zeit zu
leben beginnt, in ihr individuelle, einmalige, subjektive,
ja auch zufällige Züge annimmt, und damit „Sehicksal"
bekommt. Diese individuellen Züge, die es in seiner
konkreten Gestaltwerdting gewinnt. machen uns das Ur-
bild erlebbar, greifbar, geben ihm Realität - ohne daß
es deswegen seinen Charakter als Urbild verlöre.
Poesie ist das Ewige in seiner Zeitliehkeit, im Gewand
des Unwiederholbaren, Unverwechselbaren, Einmaligen,
Vergänglichen. Sie ist die Gottheit in ihrem bunten,
lebendigen Kleid. Das menschliche Herz hängt am Ver-
gänglichen, an den Konstellationen des Augenblicks
mehr als am Absoluten. Die jüdische Religion spricht
in diesem Sinne vom "Knoten des Herzens".
Ein Stück Flitter, von der Hand der Geliebten berührt,
wird dem Herzen kostbar. Oft lieben wir eine Neben-
sächliehkeit zuerst an einem Menschen, die Farbe seines
Schals, den Klang der Stimme, Dinge, die in uns Asso-
ziationen wachruien. Das menschliche Herz ist wie eine
schöne Frau: wankelmülig und leicht zu täusehemDarum
wendet sich die moderne Kunst so oft gegen die Trun-
kenheit des Herzens. Sie möchte frei werden von allen
Täuschungen, sie sucht etwas Umfasscndcres, Gültiger-es
- Edgar Allen Poe nennt es zuweilen Seele, fügt aber
immer hinzu: „nicht Herz". Baudelaire sagte: „Die Emp-
findungsfähigkeit der des Herzens ist dem dichterischen
Arbeiten nicht günstig", wohl aber die „Empfindungs-
fähigkeit der Phantasie".
Verzweifelt und großartig sind die Versuche, die Kunst
aus ihrer irdischen Verklammerung zu lösen und zum
Absoluten hinzuführen, in eine Zone hoher geistiger
Klarheit, die Baudelaire, Mallarme, Valery, die Paul
Cezanne und Piet Mondrian geschaut haben. Das Feuer
des Intellekts kann nur brennen, wenn die Zuckungen
des pochenden Herzens überwunden sind durch äußerste
Selbstdisziplin, Ruhe, Gleiehmall, mathematische Ge-
nauigkeit. Paul Klee sah die Vergeblichkeit dieser Ver-
suche; „Kunst geht an der letzten Richtigkeit vorbei."
Poetische Kunst kann nicht absehen von all der llcrr-
lichkeit und Einmaligkeit dieser unserer Welt. Sie bleibt
an das Leben, an das pochende Herz und seine Schmer-
zen, an das „vergängliche, ausrottbare, ewige Fleisch",
wie Faulkner sagt, gebunden, an all diese wunderbaren
Gegensätzlichkeiten.
Zwei Merkmale unterscheiden das Poetische von der
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