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Volltext: Alte und Moderne Kunst V (1960 / Heft 8)

konstruktiven Hauptlinie der Moderne, die ein Sein aus 
sich heraus, „parallel zur Natur", erreichen will. Das 
eine ist: poetische Kunst enthält immer ein Moment des 
Rühmens. Rühmen aber setzt voraus, daß etwas außer- 
halb des Rühmens verbleibt - das, was gerühmt wird. 
Rühmen meint nicht sich selbst, sondern weist über sich 
hinaus. Rühmen ist der heroische Verzicht auf die letzte 
Vollendung der eigenen Gestaltung. Der Künstler er- 
kennt in l)emut, daß etwas Größeres bleibt, das sich 
stets seiner Gestaltung entziehen wird. Trunken vor 
Weltfreude rühmt er die Welt - ohne sie ganz, bis ins 
Letzte, in Kunst verwandeln zu können. Rilke, Saint- 
john Perse und Hemingway sind solche Rühmende, Henri 
Rousseau, Utrillo, Chagall und viele aus der Gruppe 
des „Blauen Reiters". 
Das andere Merkmal poetischer Kunst ist: sie bleibt 
eine Kunst der Sehnsucht, die nicht erfüllbar ist. Wo 
immer wir der Poesie begegnen - sei es in der äußeren 
Wirklichkeit, sei es in der verdichteten Wirklichkeit 
eines Kunstwerks -, so berühren uns Wehmut und Sehn- 
sucht: Wehmut um das Vergehende und Sehnsucht nach 
Blcibcndem, das in der Zeit Bestand und Festigkeit hat. 
Die aber ist der Poesie nicht beschieden. Nur im Ver- 
gänglichen erkennt unser Herz Schönheit, und umso 
größer der Schmerz ist, den ihm das Abschiednehmen 
von einer Sache, einem Menschen oder einer jahreszeit 
macht, umso mehr hängt es an ihnen. . . Der Künstler, 
der von der Poesie beherrscht ist, erlebt diese Sehnsucht, 
die nichts Erfahrbares, sondern etwas Unendliches meint 
- vielleicht einen anderen Seinszustand als den mensch- 
licher. -, und darum unstillbar ist, stärker als alles an- 
dere, so daß er versuchen wird, ihr Ausdruck zu geben 
in Bildern der Sehnsucht. Er stellt das Geheimnis des 
Lebens über seine Kunst. 
Diese beiden Merkmale, das Rühmen und die Sehnsucht. 
trennen die poetische Kunst von ihrer letzten Geschlos- 
senheit und Erfüllung. Sie zeigen, daß das Poetische 
selbst etwas Vorläufiges ist, etwas Sterbliches _ gerade 
daraus aber empfängt es den Zauber, den es auf uns 
ausübt. 
Das Poetische ist das Vorletzte. Poetische Kunst stellt 
das Urbild in seiner irdischen Verstrickung dar. Sie ver- 
sucht das Urbildliche durchscheinen zu lassen, die Er- 
scheinungen transparent zu machen. Aber sie empfindet 
soviel Liebe zur einmaligen Gestalt, daß sie von dieser 
nicht absehen kann und sie riihmend verklärt. Sie nimmt 
immer ein Stück Leben mit in das Kunstwerk, Gedicht 
oder Bild hinein, ohne es restlos zu verwandeln. Sie ist 
vergängliche Wahrheit. Auf sie paßt ein Wort von 
Guillaume Apollinaire: „Niemals wird man die Wirk- 
lichkeit ein für allemal entdecken. Die Wahrheit wird 
immer neu sein. Sonst ist sie ein elcnderes System als 
die Natur. In diesem Falle würde die Wahrheit jeden 
Tag ferner, undeutlicher, unwirklicher werden . . f" 
Aber gerade dieser Rest unverwandelten Lebens, die An- 
wesenheit des Herzens, die Wärme, die das Bild dadurch 
verbreitet, erleichtert uns den Zugang zur modernen 
Kunst. Über das Poetische finden wir am leichtesten zu 
ihr, die schon wesensmäßig so viel Unnahbares hat und 
den Beschauer hartnäckig ausschließt. Poesie berührt uns 
vertraut und lebendig. Wir werden die letzte Klarheit 
in reifen Jahren vielleicht höher schätzen, mehr liehen 
werden wir wohl immer die Poesie. 
Poetische Kunst ist eine Kunst der Liebe zur Welt. Über 
jedem ihrer Werke steht das Wort des Cherubinischen 
Wandersmann, Angelus Silcsius, der die Zeit um ihres 
Ewigkeilsgchaltcs mehr liebte als die Ewigkeit selbst: 
„Die Zeit ist edeler als tausend Ewigkeiten, 
Ich kann mich hier dem lierrn, dort aber nicht bereiten." 
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