WERNER HOFMANN
Die nachstehende Skizze führt in den Blickpunkt ein.
den Werner Ilofmann in seinem Buch, „Das irdische Pa-
radies", Preslel-Verlag. Illüncbvn, 1900, [ür seine Ana-
lyse des 19. ßzhrhnndr-rts gewählt hat, und gibt einen
Querschnitt durch die Themenkreise, die darin aus-
führlich behandelt werden. Die beigegebenen Abbildun-
gen konfrontieren verwandte Themen in Bilderpuuren
die verschiedenen, selbst gegensätzlichen Ausdrucksbc-
reichen angehören.
Im jahre 1880, wenige Monatevor seinem Tode, schreibt
Flaubert an Zola: „Nana tourne au mylhe, sans cesser
d'etre reelle". Jahrzehnte später vergleicht Thomas Mann
das Epos der Familie RougonAMacquarI mit dem Ring
des Nibelungen. Das sind Beobachtungen, die heute in
der Regel nur wenig Gehör finden. Worauf fällt der
Blick, wenn er die künstlerischen Landstriche des 19.
Jahrhunderts durchstreift? Zunächst - was die Malerei
angeht - wohl auf das große Kapitel der malerischen
Wirkliehkeitshewältigung und dessen weltlrohe Mittags-
höhe, den Impressionismus, dem die Eroberung des Frei-
lichts als große Tat gebucht wird. Das ist aus der ge-
genwärtigen Einstellung zum künstlerischen Arbeits-
prozcß zu begreifen: eine Zeit, die Gestaltung als Hand-
lung, als dynamische Geste preist, hält sieh auch in der
Vergangenheit an die offene, spontane Form.
ln einer zweiten Schicht treten sodann dem länger ver-
weilenden Blick die Umrisse jener Künstler entgegen,
welche den Stil zu erneuern und die große, meist anti-
kisch gesinnte Form mit erhabenen, mythologischen In-
halten zu vereinen suchten: Ingres und Puvis de Chavan-
ncs in Frankreich, Burne-joncs in England, Marc-es in
Deutschland; dahinter, in beträchtlichem Abstand, Cor-
nelius und lieuerbaeh; schließlich dic Zwies iiltigen, die
ihre idealistische Gesinnung mit nahezu peinlicher Na-
turniihe hemäinteln, d. h. aktualisieren wollen: Böcklin,
Klinger und einige der englischen Prii-Railaeliten.
Eine letzte Kategorie fallt schließlich die Publikums-
liehlinge von einst zusammen, die heute in den Depots
der Museen ruhen und deren Namen keine Kunstge-
schichte nennt: die Konfcktionäre des bürgerlichen Gen-
res, die Regisseure des historischen Sittenhildes, die
harmlosen Anekdotenerzähler.
S0 etwa sieht das augenblicklich anerkannte Wertgeiüge
des 19. Jahrhundert aus. Gewiß, jede Gegenwart blickt
mit ihren Augen auf die Vergangenheit - aber selten
nimmt diese Projektion so ollenkundige Formen an. Sie
gcht so weit, daß sie alle unsere Gegenwart vorbereiten-
den Strömungen aus dem Jahrhundert herauslöst und
als Vorwegnahmcn des 20. jhdts. apostrophiert. Aul
diese Weise wurden auch einige Kronzeugen des jahr-
hunderts, Gestalten wie Cezanne, Van Gogh, Munch,
Gauguin, Seurat und Toulouse-Lautrec, ihrer Epoche
entfremdet.
Der erste Blick scheint dieser Auffassung recht zu ge-
ben: hier eine Malerei, deren larhenhungriger Blick
wahllos die Erfahrungswirklichkeit durchstreift, um sie
in chromatische Gleichnisse umzusetzen -- dort ein lite-
rarisch gefärbtes Grübeln nach erhabenen Formen und
anspruchsvollen, würdigen Inhalten - eine derartige Ge-
genüberstellung leuchtet ein, denn sie entspricht unserer
Sehweisc, die in den letzten fünfzig Jahren immer mehr
auf das Wahrnehmen von liorm- und Strukturwcrten ge-
lenkt wurde. Dennoch ist sie falsch, weil sie nur einen
Ausschnitt sieht. Das 19. Jahrhundert ist komplexer. Was
an der Oberfläche der Form oft in krasser Gegensätz-
lichkeit auscinanderklafft - etwa Degas und Böcklin,
Görieault und C. D. Friedrich -, steigt aus gemeinsamen
Erlebnisschichten empor. Freilich: die Form entscheidet
über die evokative Macht der Bilder - das geschichtliche
Urteil kann von ihr nicht absehen, doch darf es das For-
male nicht verabsolutiercn. Dieses Jahrhundert ist voll
von mythischen Wunschbildern, mehr noch: es ist diesen
Erlebnisschichten gerade dort am stärksten verhaftet,
wo es sie arglos - ohne archäologische Regie -_, in
das Gewand der Gegenwart gekleidet, vorträgt. Darum
hat lilaubert den Kern getroffen, als er Zolas Nana eine
„babylonischc Schöpfung" nannte.
2.
Das 19. Jahrhundert erlebt den Höhepunkt und die Über-
windung des Historismus. Der Mensch des geschicht-
lichen Selbsthewußtscins setzt sich der Natur und ihren
Kräften entgegen. „Der Verstand zerreißt alle Natur-
systeme und bringt seine künstlichen an deren Stelle"
(Görres),Er ersetzt mit dem Gemachten das Gewordene,
das Bewußte entledigt sich des Unbewußten, die abstrakte
Begrifflichkeit stellt sich hochmütig über das Stoffliche,
Sinnliche, Natürliche. Das Weibliche verstummt in die-
ser männlichen Welt. Und mit ihm versiegen die Quel-
len, aus denen der Mensch die ersten Gcwißheiten -
Offenbarungen, keine XlVissensdaten - über das Rätsel
der Schöpfung und sein eigenes Dasein empfing.
In den Jahren, in denen in Frankreich Gustave Courhet
seine Apotheosen des Weiblichen und der Naturmiiehte
malt, denkt Johann Jakob Bachofen in Basel über das
Verhältnis von Natur, Geist und Geschichte nach. Er
will die engen Grenzen des geschichtlichen Begreifcns
für neue Erkenntnisse durchlässig machen und in die
Erfahrungen der frühesten Menschheit eindringen. Dort
warten, keiner abstrakten Vernunftsonde zugänglich, die
„dunkeln Tiefen der menschlichen Natur". In der mutter-
rechtlich geordneten Welt entdeckt der Forscher „die
Unterordnung der Geistigen unter physische Gesetze, die
Abhängigkeit der menschlichen Entwicklung von kos-
mischen Mächten". 1862, ein Jahr nach dem „Mutter-
recht", erscheint Flauberts „Salammbö". Bachofen faßt
um diese Zeit die Erforschung des Orientalismus in Rom
und in Italien ins Auge. Daraus entsteht „Die Sage von
Tanaquil" (1870). In großliniger Gegenüberstellung wird
darin das oricntaliseh-sensualistische Lebensprinzip mit
dem geschiehtlich-vaterrechtlichen des Okzidents kon-
frontiert. ln den asiatischen Königsfrauen beschreibt
Bachofen die männerbeherrschende „femme fatale" der
alten Welt - genau in dem Augenblick, da die Phantasie
der Maler und Dichter - man denke an ßaudclaire,
Gautier, Banville, Swinburne, Rossetti, Mureau - von
den großen Hetärengestalten gefesselt wird,
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