ERNST PLISCHKE
Ein Kapiiel öslerleichische Archileklurgeschichfe
Im Mai dieses Jahres wurde Ernst Plischke der „Preis
der Stadt Wien" verliehen. Damit hat man nicht nur
an einen bedeutenden österreichischen Architekten der
Drcißigcrjahre erinnert, sondern auch an eine bemer-
kenswerte Zeitspanne der Wiener Baugesehichte. Im
Folgenden wird der Versuch unternommen, die Situa-
tion des Jahrzehnts vor 1938 in groben Umrissen dar!
zustellen. Da die Zusammenhänge äußerst kompliziert
sind, und in vielen Fällen noch ein zu geringer Abstand
besteht. kann dies nur sehr fragmentarisch und unzu-
länglich geschehen.
„Was nun weiter?" ist der Titel eines optimistischen
Aufsatzes des neunundzwanzigjährigen Ernst Plischke
(in „Die Bau- und Werkkunst", 1932), er beginnt: "Der
Kampf um die neue Architektur ist eigentlich schon
lange entschieden. Dem neuen Geist die technischen
Hilfsmittel zu schaffen war die einzige wirkliche llema
mung. Aber es war auch eine reine Frage der Zeit und
der Erfahrung. Allerdings eine harte Probe, die die we-
niger Weitbliekenden und zaghafteren Mitläufer nicht
durchhielten. Diese Zeit war auch die Galgenfrist der
Reaktionäre und für die Klügercn von ihnen die Zeit
sich unauffällig umzustellen. Die XVerkhundsiedlung ist
nun die erste geschlossene Manifestation in Wien."
lleute wissen Wir, daß die Werkbundsiedlung nicht nur
die erste, sondern auch die letzte geschlossene Manife-
station moderner Architektur war. XWir finden Namen
vertreten, wie: Adolf Loos, Josef Hoffmann, Josef Frank,
Oskar Strnad, Ernst Lichtblau, Richard Neutra, llugo
Gorge, Ernst Plischke. Auch Gäste aus dem Ausland:-
Andre Lureat, G. Rietveld und andere mehr. Wir wis-
sen aber auch, daß die sogenannte Reaktion nicht „tot"
war, sondern, im Zusammenhang mit der politischen
Entwicklung, noch einmal zu einem entscheidenden
Schlag ausholte, dessen Wirkungen bis auf den heutigen
Tag festzustellen sind. Die Auswirkungen waren so groß,
daß sogar in Ländern, wie zum Beispiel in Holland, wo
nicht nur durch die Arbeit der Stijlgruppe ein beacht-
liches Niveau erreicht wurde, und das auch später nicht
von einem Programm artbewußter, nationaler Staats-
kunst bedrängt war, ebenfalls eine Reaktion romanti-
sierender, „heimat- und bodenverbundener Bauweise"
einsetzte.
Die Situation der Architekten in Wien war aber nicht.
nur durch die äußeren Ereignisse gefährdet. Während
noch Otto Wagner (1841 bis 1918) in seiner Arbeit von
einem unzerstörbaren Optimismus beseelt war, gerieten
die führenden Geister nach dem Ersten Weltkrieg fast
in eine skeptische Passivität. Die großen Pionierleistun-
gen von Adolf Loos (1870 bis 1933) und Josef Hoffmann
(1870 bis 1955) entstanden fast gleichzeitig mit denen
Otto Wagners vor 1914. Ihre Gedanken wurden nach
dem Weltkrieg teilweise von jüngeren Gruppen aufge-
griffen, vermischt, mißdeutet und auch mißbraucht.
oder unter anderen Voraussetzungen angewendet. In
Deutschland bildete sich unter Walter Gropius das „ma-
Ierialistische" Bauhaus, in Holland die Stijl-Gruppe (um
nur zwei „Zentren" zu nennen, welche eine Revolution
der gesamten Kunst durchführtcn), Le Corbusier trat
mit seinen Schriften und Bauwerken vor die Öffentlich-
keit und in Finnland entstand die Bibliothek in Viipuri
und das Tuberkulose-Sanatorium Paimio von Alvar
Aalto. Die Maschine tritt in das Bewußtsein der Künst-
ler und ihre „schlaekenlose" Funktion wird zum Symbol
des neuen Formwillens. Neben der zentralen Bedeutung
des Funktionellen und des Konstruktiven. gibt es in der
folgenden Auseinandersetzung fast keinen Aspekt des
Bauens, der nicht, wenn auch nur für kurze Zeit, auf
den Thron gehoben wird.
Heute erkennen wir, daß diese Ühurbetonung einzelner
Probleme arbeitsmethodisch von großem Nutzen war
und, da hinter den einzelnen Programmen zum Teil
hervorragende und „ganze" Persönlichkeiten standen,
auch Ergebnisse von bleibendem Wert erzielt wurden.
In Wien stand man diesen schwungvollen Entwicklun-
gen etwas skeptisch gegenüber. Vor allem Josef Frank
(geb. 1885), unter dessen Oberleitung die Wiener Werk-
bundsiedlung entstand. erkannte die tieferen Zusammen-
hänge und die große Gefahr der Clberbewertung einzel-
ner Aspekte, da sie leicht zur Ausdehnung einiger Prin-
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