OTFRIED KASTNER
Dieses Thema drängte sich mir in
seiner mehrfachen Problematik ain-
läßlich einer Begegnung mit der
Madonna von Riom in der Auvergne
auf. Die bisher sehr stiefmütter-
liche Behandlung verlangt einen
llinweis, den wir hier vorlegen.
Durch den Vertrag von Verdun wa-
ren religions- wie geistesgeschicht-
lieh äußerst verschieden gelagerte
Räume unter Ludwig dem Deutschen
eine machtpolitische Einheit ge-
worden. Neben dem um 830 in
Niedersachsen noch ganz die ger-
manische Reckenhaltung verkör-
pcrnden Heliand steht die dem
Kaiser gewidmete Evangelienhar-
monie des Mönches Otfrid aus
Weißcnburg, die um 870 nicht nur
zugunsten des Endreimcs den Stab-
reim aufgibt, sondern auch die
Wendung der deutschen Gesinnung
zum Christentum deutlich macht.
Dieses Werk, eine Zierde derXViener
Nationalbibliothek, bringt Bilder
einer so überaus zarten Mystik. die
man einer viel jüngeren Marien-
minne zumuten würde und die der
Malerei um ein halbes Jahrtausend
vorauseilt} Er schreibt nach der
Übersetzung Erdmanns I, 11,37lf.:
,....Da bot sie mit Lust ihre jung-
fräuliche Brust dar.
Nicht micd sie zu zeigen, daß sie
Gottes Sohn säugte.
Wohl der Brust, die Christus küßt
und der Mutter, die mit ihm
koste. Wohl ihr, die ihn wiegte
und in ihrem Schoße hielt, die
ihn schön einschläierte und ihn
neben sich legte."
Vorerst nimmt das deutsche Volk
in der Plastik über Venedig und den
Donauweg einige in Byzanz entwik-
kelte Mudonnentypen auf, auf dem
Throne sitzende Marien, die sich
aus der Anbetungsszene durch die
Magier-Könige als selbständige An-
dachtsbilder herausgelöst hatten. Es
sind vor allem die Hodegelria mit
dem als imperzitor eoeli aufgelaßten,
segnenden Christussohn und die