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Volltext: Alte und Moderne Kunst VII (1962 / Heft 58 und 59)

einem Huldigungsvers. Leider sind 
sowohl das Album wie die Ta- 
glionische Figurinensammlung nur 
mehr eine schöne Erinnerung; sie 
sind seit 1945 verschwunden. 
Paul Taglioni war n1it einer Kol- 
legin, einer durch Jahrzehnte sehr 
beliebten Tänzerin, Amalie Gal- 
ster, einer Berlinerin (17. Jänner 
1807 bis 23. Dezember 1881) ver- 
heiratet. Wie dem Ehebund Phi- 
lipps mit Sophie Karsten ent- 
stammte auch Pauls Ehe eine be- 
rühmte Tänzerin, Maria Sophie 
Auguste, kurz Marie die Jüngere 
genannt. Sie wurde am 27. Okto- 
ber 1830 in Berlin geboren. Die 
mimisch-tänzerischen Anlagen bei- 
der Eltern führte der Vater durch 
eine gründliche und liebevolle 
Ausbildung zur Vollendung. Ma- 
rie war gleich vortrelflich als 
Mimikerin wie als Tänzerin; sie 
wußte in ihren mimischen Rollen 
im Ballett wie im Schauspiel 
ihrem „seelischen Gefühl in an- 
mutiger Freude wie im tragischen 
Schmerz gleich verständlichen 
Ausdruck" zu geben. Die Tech- 
nik ihres Tanzes war vollendet. 
Sie wurde mit „einer vom linden 
Hauch geschaukelten Rose", mit 
einer „Libelle, die von Blume zu 
Blume schwebt" verglichen, und 
dem Ausruf eines Enthusiasten 
„Die Taglioni tanzt wie ein En- 
gel!" erwiderte ein anderer: „Sie 
irren! Die Engel tanzen wie die 
Taglionil" 
Marie trat als fertige Künstlerin 
vor das Publikum. Sie wurde im 
Haus ihres Vaters in gehobenem 
bürgerlichem Milieu liebevoll, aber 
nach strengen Lebensgrundsätzen 
erzogen; Züge einer Bohemienne, 
die man bei einer Tänzerin gerne 
sucht und in jener Zeit nicht 
selten findet, fehlen in ihrem 
Wesen wie in ihrem Leben voll- 
ständig. Zum erstenmal stand sie 
in einer Vorstellung vor dem Hof 
im Königlichen Theater im Neuen 
Palais in Berlin am 20. Juni 1847 
auf der Bühne; vor der Allge- 
meinheit debütierte sie in London 
am 16. Februar 1849 in einem 
„Pas de la Rosiäre" mit außer- 
ordentlichem Erfolg. Als die Kö- 
nigin der Sängerinnen ihrer Zeit, 
die „schwedische Nachtigall" Jen- 
ny Lind, sich von London verab- 
schiedete, wünschte sie, daß Marie 
den Part der Helena in Meyerbeers 
Oper „Robert der Teufel", den der 
Komponist für ihre Tante geschaf- 
fen hatte, übernehme. 
Mit ihrem Vater nach Berlin zu- 
rückgekehrt, schritt sie nach ihrem 
ersten öffentlichen Auftreten in 
der Königlichen Oper in Berlin 
am 9. November 1849 von F.r- 
44 
folg zu Erfolg. Im März 1851 
tanzte sie vor dem Zaren. Im 
Jahr 1853 begann sie einen Gast- 
rollenzyklus in Wien, den sie nun 
alljährlich bis 1856 wiederholte. 
Wohin sie kam, wurde sie mit 
Huldigungsgedichten überschüt- 
tet. Johann Strauß komponierte 
einen Taglioni-Walzer, es gab 
eine Taglioni-Polka, modische 
Gegenstände erhielten ihren Na- 
men, die Blumenhändler machten 
blendende Geschäfte. In Wien 
trafen sich ihre Verehrer beim 
Sacher und hießen bald der „Ta- 
glioniklub"; als ihr Anführer galt 
Prinz Alexander Hohenlohe-Schil- 
lingsfürst, ein Sohn des deutschen 
Reichskanzlers, damals bei der 
preußischen Gesandtschaft in 
Wien tätig. Es gehörte zum guten 
Ton, einer Tänzerin von großem 
Namen den Hof zu machen. 
„Selbst der Kaiser", so erzählt der 
Prinz in seinen Memoiren, „amü- 
sierte sich darüber; und wenn er 
zum Ballett in die Loge kam, 
richtete er sein Glas auf meinen 
Platz. Hob ich dann meinen Hut 
in die Höhe und zeigte das darin 
verborgene Bukett, mit dem ich 
bestimmt war, das Signal zum 
Blumenwerfen zu geben, dann 
lächelte er lieb, um den Spaß mit 
anzusehen. Zuckte ich aber mit 
den Achseln und hatte einen 
leeren Hut, dann ging er bald 
wieder fort." Niemand ahnte aber, 
daß sich unter der Maske des 
Ballettenthusiasten ein für Öster- 
reich sehr gefährlicher Spion ver- 
berge. Im Taglioniklub und im 
Salon der Künstlerin gab es 
natürlich zahlreiche Ofßziere, die 
viel von den „schwebenden 
militärischen Angelegenheiten 
schwatzten". „So erfuhr ich alles, 
ohne jemand zu fragen. Ich war 
zuletzt so schnell unterrichtet, 
daß ich einmal abends von einem 
geheimen Befehl über Anord- 
nungen in der Armee Kenntnis 
erhielt, ehe er im Konzept auf- 
geschrieben war, und daß meine 
Meldung darüber in Berlin an 
dem Tag eintraf, an dem er in 
Reinschrift unterschrieben ward. 
Auf diese Weise unterstützte 
Marie Taglioni die preußische 
Diplomatie, ohne es zu wissen." 
Dieser Bericht stammt aus dem 
Jahr 1854, der Zeit des zweiten 
Gastspiels Maries in Wien. ln 
diesem „Taglioniklub" stellte 
Prinz Hohenlohe-Schillingsfürst 
der Tänzerin auch den Prinzen 
Joseph zu Windisch-Graetz vor, 
der „sich ganz ernstlich in sie 
verliebte, und lange schmachtete, 
bis er sie zwölf Jahre später 
heiratete". 
Nach ihrem ersten Gastrollen- 
zyklus in Wien fand Marie bei 
ihrer Rückkehr nach Berlin zwei 
außerordentlich schmeichelhafre 
Engagementanträge, einen nach 
XWien und einen nach Petersburg, 
vor. Auf XWunsch des Königs 
Friedrich Wilhelm lV. entschied 
sie sich aber, in Berlin zu bleiben, 
und schloß mit den Königlichen 
Hoftheatern am 1. Oktober 1853 
einen zehnjährigen Kontrakt ab. 
Von Berlin aus unternahm sie 
alljährlich Gastspielreisen zu den 
bedeutendsten Bühnen der Alten 
Welt und wurde überall begeistert 
aufgenommen. im Juni 1863 ver- 
letzte sie sich im Ballett „El1inor" 
den Fuß; die Gastspielreisen stellte 
sie nun ein. Nach dem Ende ihres 
zehnjährigen Kontrakts ließ sie 
sich noch einen dreijährigen mit 
der Hofbühne abringen, aber am 
14. Februar 1864 bat sie um ihre 
endgültige Pensionierung, die ihr 
vom 1. April an auch gewährt 
wurde. Sie hat die Bühne nie 
mehr betreten. 
Nach dem Ende des österrei- 
chisch-preußischen Krieges hei- 
ratete Marie Taglioni am 24. Sep- 
tember 1866 einen „feindlichen" 
Ofüzier, jenen Prinzen Joseph zu 
Windisch-Graetz, k. k. Major im 
4. Husarenregiment in Prag, den 
sie 12 Jahre zuvor in Wien im 
„Taglioniklub" kennengelernt har- 
te. Nach einer beispiellos erfolg- 
reichen Bühnentätigkeit wurde sie 
im „Walten im häuslichen (und 
gesellschaftlichen) Kreise" sehr 
glücklich. Sie starb am 27. August 
1891 in Neu-Aigen bei Tulln in 
Niederösterreich. 
Maries jüngere Schwester Auguste 
hatte sich auch dem Theater, aber 
nicht dem Tanz, sondern der 
Sprechbühne zugewendet. Wie 
Tante, Onkel und Schwester be- 
gann sie ihre Bühnenlaufbahn in 
Wien. Sie trat am 1. Dezember 
1856 im Burgtheater ins Engage- 
ment und debütierte am 5. De- 
zember in der „Ersten Liebschaft" 
(von Th. Hell); als „muntere 
jugendliche Liebhaberin", 
ihre Rollenbezeichnung lautete, 
fügte sie sich gut in ihre Kunst 
ein. Nach sieben Monaten ging 
sie an die Königlichen Hoftheater 
in Berlin, zu Vater und Schwester. 
Am 1. September 1874 verließ sie 
endgültig die Bühne; sie starb 
hochbetagt am 8. Juni 1911 in 
Tegel bei Berlin. Mit August: 
schloß sich der Kreis künstlerisch 
tätiger Taglioni auf deutschem 
Boden. Die Geschichte der Familie 
im 19. Jahrhundert ist gleich- 
zeitig eine Geschichte des Bühnen- 
tanzes in Europa. 
wie 
Avimlie "Ihvlii 
S. 47, A . 
 
Ährie Tiiglmni .i. j 
S. 49, Abb, 9 
 
LITERATUR 
Friedrich 'l'ictz, MJIIC Tliglioni. 
Erinlivrunßxhliiltcr .1... dem Leben 
der Künstlerin. Berlin 1x66. 
Hmgrapliixchcs um. des Kaiser- 
- v. L Hd. 43 (Wien 
   
 
1 um". Marie Taglioni. 
mit 1'- . Englische Übersetzung 
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- im roinnntii: Ballett 
Lunrlnn 1054. 
Mary (Hlfkf. m grtxll llJllCrlW. 
Luiitltm wsv. 
 

	        
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