MAK

Volltext: Alte und Moderne Kunst VII (1962 / Heft 62 und 63)

ln einer österreichischen Privat- 
sammlung befindet sich ein Selbst- 
bildnis Van Goghs, das bis jetzt 
nur einer kleinen Anzahl von 
Personen bekannt war und nun 
hier mit freundlicher Erlaubnis 
des Eigentümers veröffentlicht 
wird (Abb. 1). 
Das lebensgruße Brustbild im 
Format 46:38 cm ist auf eine 
Leinwand mit dem Firmenstempel 
„Ruy Perrod, Paris" gemalt. Diese 
Leinwand wie auch die Farb- 
schicht sind nicht in tadellosem 
Zustand, ein Riß, ein wenig 
rechts von der Bildmitte, ist aus- 
gebessert, doch sind abgesehen 
davon keine störenden Über- 
malungen festzustellen. Der Farb- 
auftrag ist energisch und grob, 
fast durchwegs sehr pastos. Die 
Gesichtsfarbe ist ein ziemlich 
dunkler Fleischton, kräftig ist 
auch die Haarfarbe, es ist die 
eines ausgeprägt Rothaarigen. Der 
Hemdausschnitt ist in trübem 
Weiß gemalt, Rock und Hinter- 
grund sind in der Gesamtwirkung 
schwarzblau. Über die Herkunft 
des Bildes ist nur wenig bekannt I), 
doch spricht für die Überliefe- 
rung, daß es sich um ein Selbst- 
porträt Van Goghs handelt, der 
künstlerische Sachverhalt ebenso 
wie die Physiognomie des Dar- 
gestellten. ln beiderlei Hinsicht 
fügt sich das Porträt in die Reihe 
der Selbstbildnisse des Malers 
aus seiner Pariser Periode, 1886 bis 
1887, ein. Nur diese Periode, und 
zwar eher das erste der zwei Jahre 
seines Pariser Aufenthaltes, kann 
als Entstehungszeit in Betracht 
gezogen werden. Zvveiundzwanzig 
von den rund dreißig erhaltenen 
Selbstbildnissen Van Goghs sind 
zum Teil nachweislich, zum übri- 
gen Teil nach übereinstimmender 
Annahme in den Pariser Jahren 
entstanden. ln diesen Selbstpor- 
träts spiegelt sich in einer mitunter 
krassen Weise die Unausgeglichen- 
heit einer Übergangsperiode inner- 
halb des rasenden Entwicklungs- 
ablaufes der Kunst Van Goghs. 
Das gilt für jeden der zwei er- 
wähnten Aspekte. 
Was das Physiognomische be- 
trifft, so fallt in den Selbstbild- 
nissen ein merkwürdiger Wechsel 
allein schon im anatomischen 
Typus auf. Einige der Selbst- 
bildnisse zeigen ein schmales, 
langes Gesicht, das an die wenigen 
der Pariser Epoche vorangehen- 
den Selbstbildnisse aus der Zeit 
des Aufenthaltes in Antwerpen 
7 
erinnert (Antwerpen: H. 186, 188, 
2242); Paris: H. 411, 414, 417, 
419), die anderen, die weitaus in 
der Mehrzahl sind, haben eine 
breitere, dreieckige Gesichtsform, 
mit abfallendem Kinn und zu- 
meist stark vortretenden Backen- 
knochen. Es ist dies derjenige 
physiognomische Typus innerhalb 
der Reihe der Selbstbildnisse, der 
allgemein unsere Vorstellung vom 
Aussehen Van Goghs bestimmt, 
und zwar vor allem deshalb, weil 
einige der bedeutendsten und be- 
rühmtesten Selbstbildnisse der 
späteren Schaffenszeit diesen Ty- 
pus zeigen, wie das mit der 
Widmung an Gauguin (H. 505), 
die beiden Bilder mit der Pelz- 
mütze und dem verbundenen Ohr 
(H. 547, Xll; Abb. 4) und das 
letzte Selbstporträt (H. 748). 
Ein fast allen Selbstbildnissen Van 
Goghs gemeinsames physiogno- 
misches Merkmal ist ein bohren- 
der Blick, der unter stark vor- 
tretenden Brauenwülsten hervor 
zumeist auf den Beschauer ge- 
richtet ist. Dieser Blick, zusammen 
mit den fast immer verhärmten 
Gesichtszügen und der betont 
einfachen, ungepflegten Kleidung, 
bestimmt das Gesamtbild des 
Seelenzustandes, den Van Gogh 
in seinen Selbstbildnissen in ab- 
sichtsvoll unterstrichener Weise 
wiedergegeben hat. Kaum jemals 
fmdet sich in der langen Reihe 
dieser Selbstdarstellungen die Ten- 
denz einer objektiv nüchternen 
Feststellung des äußeren physio- 
gnomischen Sachverhalts-l), um- 
gekehrt aber in den späteren 
Selbstbildnissen, aus Arles und 
Saint-Remy, die Steigerung in die 
Dimensionen des Tragischen und 
Dramatischen, ja des Schreckhaft- 
Unheimlichen, wie in den früher 
schon erwähnten Werken, dem 
Selbstbildnis mit der Pelzmütze in 
der Sammlung Leigh B. Block in 
Chicago (Abb. 4) und dem mit 
derWidmunganGauguinOl.505). 
Die subjektiv freieste Farbenwahl, 
die es in der Kunst Van Goghs 
überhaupt gibt, ist in dem Selbst- 
bildnis mit der Pelzmütze an- 
gewendet, und in dem andern 
Bild verblüfft die bizarre Eigen- 
willigkeit der „japanischem Au- 
gen 4). Trotzdem herrscht in die- 
sen Bildern auch eine höhere Ob- 
jektivität, mit der ein allge- 
meines Merkmal der Griiße der 
Kunst Van Goghs das in 
heklemmender Nahsicht nieder- 
geschriebene subjektive lirlebnis 
ins Überpersünliche gehoben ist. 
liiner der Wege, die dahin führ- 
ten, daß diese späten Selbst- 
porträts zu den einsam dastehen- 
den Monumenten tragischen 
Künstlerschicksals und zu Bildern 
der Lebensqual wurden, war die 
Härte des Malers gegen sich 
selbst, der den zerstörenden Kraf- 
ten Anspannung und krampfhaf- 
ten Optimismus entgegensetzte. 
lirst in dem letzten der in Paris 
entstandenen Selbstbildnisse, dem 
mit der Staffelei (H. 425), ist 
dieser Weg in einer die gesamte 
Bildgestalt erfassenden Weise be- 
schritten, denn erst damals hatte 
Van Gogh seine eigene Form in 
Malerei und Zeichnung ganz ge- 
funden. ln den vorher gemalten 
Selbsthildnissen der Pariser Pe- 
riode aber ist bereits manches 
davon in einzelnen Zügen und in 
verschiedenen Abstufungen we- 
nigstens im Bereich des Physio- 
gnomischen, Psychischen zu er- 
kennen. ln dem hier veröHent- 
lichten Bild (Abb. 1) ist davon 
sogar verhältnismäßig viel ent- 
halten, mehr als in manchen 
anderen dieser Gruppe. Besonders 
stark ist in diesem in die Enge und 
Finsternis des Bildraumes 
gezwängten Kopf der Ausdruck 
düsteren Ernstes und angespann- 
ter Energie. 
Nun zu der Darstellungsweise, 
der malerischen (iestalttmgsform. 
Ausnahmslos in allen Pariser 
Selhstbildnissen geht es in irgend- 
einer XVeise um die Aneignung 
der pointillistischen Malweise und 
der dazugehörigen Farbigkeit. lis 
sind aber nicht allein die sehr 
verschiedenen Grade und Spiel- 
arten dieses Systems, die in dieser 
ßilderreihe fortwährend wechseln, 
zwischen stark graphisch beton- 
ten, langgezogenen Pinselstrichen 
und einer ausgeprägter homoge- 
nen Füllung der Bildfläche mit 
kleinen Flecken, also einem deut- 
licher methodischen, eigentlichen 
Pointillismus. Wesentlicher in Hin- 
blick auf das Gesamtbild dieser 
Reihe von Selbstbildnissen und 
ihre Rolle in der Entwicklung 
der Form Van Goghs ist das 
Schwanken in der Beziehung die- 
ser Struktur der kleinen Bild- 
elemente zu den größeren Ein- 
heiten, das heißt zu den plastischen 
Formen des Kopfes und der damit 
zusammenhängenden Darstellung 
der Beleuchtung. Das mehr oder 
weniger bewußte Ziel war eine 
das 
ein- 
bruchlose Geschlossenheit, 
1 Van 00,11., 
Um 1886. 
Priv' mnunlung 

	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.