Zu den auf dem Gebiet der bayerischen Rokoko-
plastik heute kaum mehr für möglich gehaltenen
wirklich großen Funden gehört eine aus altem
Münchener Privatbesitz erst vor kurzem überraschen-
derweise zum Vorschein gekommene Madonnen-
statuette 1). Sie stellt eine auf der Weltkugel stehende
Madonna dar, deren Attribute: ein kleiner Lilien-
zweig in der erhobenen Linken (der jetzt ergänzt ist)
und ein Reif mit dem Zwölfsternenkranz, nicht
erhalten geblieben sind. Die aus einem Stück an-
gefertigte und aus Lindenholz geschnitzte Figur ist
in Kasein-Tempera-Technik farbig gefaßt (H. 80 cm).
Sie steht auf einem angeschraubten und ursprünglich
zugehörigen Volutensockel aus Fichtenholz, dessen
Vorderseite mit geschnitzten-i und vergoldetem
Rocaillewerk geschmückt ist. Die Rückseite der
Statuette ist flach, woraus man schließen kann, daß
sie einst im geschnitzten Gehäuse eines gefaßten
Baldachinschreines stand. Mit Berechtigung kann
man hier wirklich von einer wandbezngenen Plastik
sprechen, die man in dieser Hinsicht erst dann in
vollem Umfang würdigt, wenn man bei ihr die
auffallende Betonung des die Figur umrahmcnden
Mantelkonturs zusammen sieht mit der dadurch
verbundenen bewußten Verzichtleistung auf Seiten-
ansichten. Aus einem genau in der Mitte rückseitig
angebrachten originalen Befestigungsdübel geht
hervor, daß sie wie bei der lmmakulata aus Attel,
von der noch zu sprechen sein wird, ursprünglich
von einem großen, wohl vergoldeten Strahlenkranz
als Rücklage hinterfangen war. Analog der ursprüng-
lichen (iemt nicht mehr gegebenen) Aufstellung der
Atteler lmmakulata kann man aus naheliegenden
formalen und inhaltlichen Gründen vermuten, daß
diese bisher unbekannte Madonna einst ebenfalls
von zwei kleinen, eine Stufe tiefer als die Hauptfigur
auf Volutensockeln knienden Engeln umrahmt war,
so daß sich hieraus eine vollkommen „bildmäßiif
konzipierte Gesamtkomposition ergab, die wie in
Attel sicher vom Bildhauer selbst entworfen und
auch von seiner Hand ausgeführt wurde. Nach dieser
Rekonstruktion hätten die einander zugewendeten
anbetenden Engel die beiden unteren Ecken eines
gleichschenkligen Dreiecks ausgefüllt, dessen Spitze
der Kopf der Statuette gebildet hätte. Wer war nun
der Erfinder eines so vollkommen „bildmäßig"
erdachten und doch nach strengen geometrischen
Gesetzen komponierten Tabernakels und damit der
Schöpfer dieser bezaubernden Madonnenl-igur?
Die Antwort darauf kann nur lauten: Es ist ein
außerordentlich qualitätsvolles, ausdrucksstarkes und
völlig eigenhändig geschnitztes XVerk des größten
deutschen Rokokubildhauers Franz [glmg Günther
(17Z5-v1775). Es ist mit Sicherheit ein Werk der rei-
fen Scbaffensjahre des Münchener Meisters und gegen
1770 entstanden, also nach Vollendung des Starn-
berger und Mallersdorfer Hochaltares (176671768
bzw. 17685)?) Schaut man sich im Werk lgnaz
Günthers nach analogen Skulpturen um, dann trifft
man zuerst auf die schon erwähnte, um 1762 zu
datierende berühmte lmmakulata in Attel (H. 82 cm),
die unserer Statuette mit Ausnahme des sie um-
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