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Volltext: Alte und Moderne Kunst VIII (1963 / Heft 69)

 
ALOIS KIESLINGER 
Die älteste Steinätgzzng 
Eine seltene und verhältnismäßig spät, soweit wir bisher wußten, erst 
im 16. Jahrhundert auftretendel) Art der Steinbearbeitung ist die 
Ätzung. im Gegensatz zu der Skulptierung und Gravierung arbeitet 
sie auf chemischem Wlege Schriften, Ornamente und ganze Bilder 
aus Steinplatten heraus. Die bevorzugten Gegenstände waren reich 
gegliederte Tischplatten, als Wandschmuck dienende Zierplatten, 
Kalender, Grabschriften und später auch Zifferblätter für Sonnen- 
uhren, die in keinem Barockgarten fehlen durften. Die Künstler dieser 
eigenartigen Technik waren lange Zeit hindurch Schreib- und Rechen- 
meister, also Kalligraphen, die meistens graphische Vorlagen, Ornament- 
stiche u. dgl. in die Steintechnik übersetzten. ln Österreich konnten 
bisher rund 130 derartige Arbeiten aufgefunden und beschrieben 
werden. 
Die Kleine. Die Ätzung erfolgte ausschließlich auf den von Säuren 
leicht angreifbaren Karbonatgesteinen. Die bisher bekannten, vor- 
wiegend in bayrischen und österreichischen Sammlungen erhaltenen 
Stücke sind ausschließlich aus dem überaus feinkörnigen, praktisch 
kernlosen Kalkstein von Solnhofen in Bayern gearbeitet; sowohl die 
Spaltbarkeit in dünne Platten als auch die Feinkörnigkeit machten ihn 
wie kaum einen anderen Stein für die Ätztechnik geeignet. 
Bei den seit Jahren verfolgten Studien über Steinätzungen in Öster- 
reich sind mir nun wiederholt Arbeiten aus anderen Kalksteinen 
untergekommen, nämlich aus dem weißgelben Untersberger, dem roten 
Adneter Marmor und auch noch aus körnigem weißem Marmor (dem 
die wissenschaftliche Gesteinskunde allein den Namen Marmor oder 
kristalliner Marmor zubilligt, während sie die anderen polierbaren 
Kalksteine nur als „dichte Kalksteine" gelten läßt; in Wirklichkeit 
bestehen diese ebenfalls aus Körnern von Kalkspatkristallen, deren 
Griäße freilich unter der Grenze der Sichtbarkeit für das freie Auge 
liegt). Von den nicht seltenen Ätzungen aus anderen als aus Soln- 
hofener Kalksteinen habe ich bisher erst eine Arbeit, ein schönes 
Marmorportal von 1571 im Niederösterreichischen Landhaus zu Wien, 
aus rotem Adncter Marmor, veröffentlicht. Es ist ein merkwürdiger 
Zufall, daß nun das hier als nunmehr älteste erhaltene Steinätzung 
vorgestellte Stück auch nicht aus Solnhtafener Kalkstein, sondern aus 
einem feinkörnigen kristallinen Marmor gearbeitet ist. 
Die Technik der Xleiniilgurlxg besteht im wesentlichen darin, daß jene 
Teile der OberHäche, die erhaben stehenbleiben sollen (daher „lloch- 
ätzung"), also die Zeichnung, durch eine mehr oder minder fette 
wasserabweisende Farbe bemalt werden. Durch Behandlung mit Säure 
(meist nahm man verdünnte Salpetersäure) werden die ungeschützten 
Teile der Steinplatte bis zu einer gewissen Tiefe, meist wenig über 
einen Millimeter, abgetragen, so daß eben die geschützten Teile um 
den gleichen Betrag hoch herausstehen. Vielfach wurden die durch 
die Ätzung etwas ausgefransten Linien mit einem Grabstichel noch 
etwas nachgebessert. Die Zeichnung wurde durch Bemalung oder 
Vergoldung gehöht, manchmal auch der Grund schwarz ausgemalt. 
Es sind einige alte Anleitungen und Rezeptbücher für Steinätzung 
erhalten, die ihrerseits auf ältere Angaben, z. B. eines Steinätzers 
Andreas Gundelfrnger aus dem 16. Jahrhundert, zurückgehen (aus- 
führlich bei Wallner, 125.). 
Da: neu gefundene Xtiiek. Das hier zu behandelnde Stück befindet sich 
in der Sammlung eines XX'iener Kunstfreundes. Auf den ersten Blick 
als typische Steinätzung zu erkennen, war es vor allem durch sein sehr 
altertümliches Aussehen auffallend, offenkundig älter als jede bisher 
bekannte Steinätzung. 
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Es handelt sich um einen Anhänger aus feinkörnigem weißem Marmor, 
der gerade in einer Faust Platz hat. Er hat die Gestalt eines auf den 
beiden Seiten ungleich stark gewölbten Ellipsoides von 61 mm Höhe 
und 44 mm Breite. Bei einer Gesamtdicke von 26 mm ist die eine 
Fläche (die die Schrift trägt) bis zu 15 mm, die andere (mit dem Marien- 
bilde) bis zu 11 mm von der Mittelebene vorgewölbt. Den größten 
Umfang entlang verläuft eine Nut, die einen 1,2 mm dicken gekerbten 
Silberdraht enthält; am Ende ist er zu einer Aufhangeöse gebogen. 
Das ganze Stück wiegt 105,64 g. Durch das offenbar sehr lange Tragen 
ist der Anhänger auf beiden Seiten an den am meisten gewölbten 
Bereichen sehr stark abgewetzt, stellenweise bis zum vertieften Grunde 
der Ätzung; dadurch wurde die Lesung der Schrift sehr erschwert 
und die vollkommene Deutung des Bildes unmöglich gemacht. 
Der Stein ist ein vollkommen uncharakteristischer weißer Marmor, 
der, von einzelnen feinsten kaum offenen Sprüngen („Stichen") aus- 
gehend,eine zarte gelbliche Verfärbung aufweist. Seine Beschaffenheit 
gestattet auch nicht einmal annähernd irgendeinen Hinweis auf seine 
Herkunft, weil es derartige Marmore in den meisten Ländern Europas 
gibt. 
Die Qualität der Ätzung macht infolge der starken Abwetzung einen 
sehr viel schlechteren Eindruck, als ihn das Stück in neuem Zustand 
erweckt haben muß. Alles in allem aber ist sie - gemessen an den 
vielen Beispielen des 16. Jahrhunderts - doch als ziemlich primitiv 
zu bezeichnen. Die Begrenzung der einzelnen Formen besteht aus 
aneinandergereihten Ätzgrübchen. Irgendeine mechanische Nach- 
arbeitung hat nicht stattgefunden. Die stärker gewölbte Seite trägt 
neben dem Marienbilde ein sogenanntes Tatzenkreuz, das gleiche 
findet sich auch im obersten Teil des Schriftfeldes. Diese lange Zeit 
übliche und weitverbreitete Kreuzform läßt sich weder zu einer Zeit- 
bcstimmung verwenden noch auf einen bestimmten geistlichen Orden 
zurückführen wie etwa das Malteserkreuz. 
Der Texl. Die Lesung des Textes war sehr schwierig, da ja der Großteil 
der Schrift weitgehend bis vollkommen abgewetzt ist. Die einiger- 
maßen noch erhaltenen Anfangswerte am linken Anfange der Zeilen 
führten aber doch rasch zur Identifizierung mit einem bekannten liturgi- 
schen Text durch Se. H. Herrn P. Coelestin Raps OSB, den Archivar 
des Wiener Schottenstiftes. Demnach handelt es sich um ein noch 
im heutigen Brevier enthaltenes Responsorium nach der 3. Lektion 
der 1. Nocturn im Commune festorum B. M. Virginis, das heute auch 
als Offertorium an den beiden Marienfesten vom 2. Juli und 8. Septem- 
ber erscheint. 
Der Text unseres Steines lautet also (nach Auflösung der Abkürzun- 
gen): 
BIEATA ES 
Virgo maria quae dontinum 
portasti creatorem rnundi 
genuisti qui te fecit 
et in eternum permanes 
virgo
	        
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