HLKUNCEN: 11 12
mm. Des Meisters Ceinälde (Klassiker dCY Kunst
25. S. 42.
zu),
. L. Schreiber, Handbuch der Holz- und Mcrallschnilic
s 15. Jahrhunderts, I, 1926, Nr. 155
158.
Hächige, kraftvoll-derbe Kopf überhaupt als
Erfindung eines Tafelmalers angesprochen
werden? Die Frage ist, wie wir noch sehen
werden, sehr berechtigt, und jener Kopf ist
keineswegs der einzige, wenn auch der auf-
fallendste. Oft sind die Haare strähnig gegeben,
als ob sie aus dicken Fäden bestanden. Und
nochmals ist auf die großzackig gefalteten
Gewänder, ist weiterhin auf die großformig
gemusterten Damaste und Brokate hinzu-
weisen. Derlei Formen wird man bei einem
niederländisch geschulten Maler gewiß nicht
erwarten, vielmehr deutet sich hier ein völlig
anderer Einflußbereich an. Er hat bewirkt,
daß der Maler manches kraftvoller gestaltet,
daß er die Bilder insgesamt auch reger aus-
geformt hat, so daß sie expressiver als ver-
gleichsweise niederländische Kompositionen
sprechen. Die realistisch charakterisierten Ge-
sichter sind es keineswegs allein; auch die
vielfachen Gesten der llände, die heftigen
Wendungen, die lebhaft geführten Gewand-
säume weisen in eine andere Richtung. je
mehr man die Bilder abtastet, um so dringlicher
meldet sie sich, während der niederländische
Einschlag um so ferner rückt. Wo aber ist
jene andere Richtung, wo ist der Kreis ver-
wandter Werke zu suchen?
Sie lassen sich aufdecken, wenn wir zur Tafel
der Tempelreinigung zurückkehren. Vergleicht
man sie mit den Tafeln aus Thuison, so zeigt
sich, daß diese alle die Merkmale, die uns nach
einem anderen Kreis fragen ließen, mit jenem
Bilde gemeinsam haben. Nur haben sich in der
Tempelreinigung die expressiven Tendenzen
ausschließlicher durchgesetzt, da ihr Meister
weniger mit niederländischen Lehren belastet
gewesen ist. Zudem waren die Maler auch
nach Begabung und Temperament recht ver-
schieden. Der Meister der Tafeln aus Thuison
war mehr zu plastischer Formung begabt, der
der Austreibung dagegen war vor allem
Maler. Mit leichtem Pinsel hat er die Gesichter
lasierend gemalt, und mit aller Sinnenfreude
seiner Augen scheint er den Reichtum seiner
Palette genossen zu haben. Unerschöpflich
war er im Erfinden farblich-malerischer Kom-
binationen. L'nd wie hat er mit grotesken
Gebärden und Bewegungen gespielt. Nie
müde scheint sein Vorstellungsvermögen
immer neue, andersartige Formen, Farben und
Motive seinem Pinsel vermittelt zu haben.
Der andere war der kühlere, der rationalere
Kopf. Er hat sich mehr um Übersichtlichkeit
und Schaubarkeit bemüht, im Piingstbild und
in der Himmelfahrt hat er die Figuren dann
freilich doch zu einem unruhig-kontrast-
reichen Geschiebe mehr iiber- als hinterein-
ander zusammengedrängt. Und da sind dann
auch Gestik und Mimik ähnlich lebhaft wie
bei jenem, äußert sich in den Gesichtern ein
verwandter expressiver Realismus. Verwandt
ist weiterhin die Behandlung der Haare, die
Wiedergabe der Stolfe, ist auch der Faltenstil
mit den heftig zusammengeschobenen Falten-
nestern. Die lndividualitäten der Maler sind
nicht zu verwechseln, aber anderseits ist wohl
ebenso gewiß, daß ihre Werkstätten nicht
allzu fern voneinander gestanden haben. XVo
aber waren die Voraussetzungen gegeben, die
diesen Tafeln aus Thuison und der Aus-
treibung der Händler jenen eigenen Charakter
gegeben haben, oder, wenn wir dies nicht
nachzuweisen vermögen, wo sind verwandte,
ähnliches Formgefühl atmende Werke nachzu-
weisen? Wir fragen noch einmal.
Die lkonographie bietet keinerlei Hinweise
auf kunsthistorische Zusammenhänge. Die
Szene, im frühen Mittelalter öfter dargestellt
und wiederum in der Barockmalerei sehr
beliebt, war in gotischer Zeit offenbar ziemlich
unbeachtet. Giotto hat ihr in der Arenakapelle
in Padua eine großartige, zentral angelegte
Komposition gewidmetll. Sie hatte keine
Nachfolge. Vier Einblattholzschnittell, sämt-
lich oberdeutscher Herkunft, haben mit
unserem Bilde nur allgemeinste Züge, etwa
die Stellung Christi am linken Bildrande,
gemeinsam. Und auch die Buchmalerei, die
sonst in der zeitgenössischen französischen
Malerei oft eine bereite Helferin ist, weist i
wenigstens vorerst 7 keinen Weg. Nachdem
aber die Tafel der Austreibung zu den Flügeln
aus Thuison geordnet werden konnte, ist an
ihrer französischen Herkunft nicht mehr zu
zweifeln. Der französische Genius hat sich
nicht nur in Moissac, Beaulieu, Souillac oder
Vezelay leidenschaftlich geäußert, auch im
15. Jahrhundert hat es Werke solcher Art
gegeben. Im Kreise der Buchmalerei ist an
die Grandes Heures de Rohan zu erinnern,
im Kreise der Tafelmalerei etwa an das große
Triptychon von Nicolas Froment mit der
Auferweckung des Lazarus im Mittelfeld
(Florenz, Uffizien). Dieses frühe, 1461 datierte
Altarwerk spiegelt zumal in den Gesichtern
der Figuren, aber auch in Gewandstil und
Kompositionen eine verwandte Formauf-
fassung. Ähnlich wie in der Tempelreinigung
sind die Köpfe realistisch, sind die Figuren-
gruppen gedrängt bewegt. Die Beziehungen
im damaligen Frankreich überbrückten oft
weite Räume. Zumeist gingen sie von Nord
nach Süd. Viele Meister kamen aus den
Niederlanden oder von der Maas; Charenton,
der in Avignon tätige Maler, war in der
Diözese Laon geboren. Warum sollten die
Wege nicht auch einmal in anderer Richtung
verlaufen sein? Es handelt sich nur um ver-
wandte, unabhängig voneinander gefundene
Äußerungen. Bewiesen wird nur, daß Bilder
wie die Austreibung im 15. Jahrhundert in
Frankreich durchaus möglich gewesen sind.
Der Kreis verwandter Werke aber ist in einem
Bezirk künstlerischen Schaffens gegeben, der
von der den Bereichen der Malerei zuge-
wendeten Forschung gemeinhin nur wenig
beachtet wird: es war die Teppichwirkerei von
Tournai.
Der 1435 geschlossene Friede von Arras, der
die Macht Herzog Philipps des Guten von
Burgund (1419-1467) aufs höchste steigerte,
leitete zugleich die Blütezeit der nordfran-
zösisch-burgundischen Teppichkunst ein, wo-
bei Tournai die Führung übernahm. Unter
Philipp dem Kiihnen (1361-1404) war die
Teppichwirkerei in Arras erblüht, sein Enkel
wurde nun der größte Nläzen der Tournaier
Meister. Schon 1440 besaß die burgundische
Krone so viele XWandteppiche, daß ein stei-
nernes Magazin und eine eigene Verwaltung
notwendig waren. Auch in den benachbarten